Gewalt an den EU-Grenzen beenden

Das »Border Violence Monitoring Network« (BVMN) hat am 18. Dezember 2020 eine umfangreiche Publikation über illegale Push-Backs an den europäischen Grenzen veröffentlicht. Das Buch mit dem Titel »Black Book of Pushbacks« (dtsch. »Das Schwarzbuch der Push-Backs«) sammelt eine Fülle von Belegen für diese Gesetzesverstöße und analysiert im Detail, wie systematisch diese brutalen Aktionen an den EU-Grenzen durchgeführt wurden – ohne dass dafür jemand zur Rechenschaft gezogen wurde.

Regine Beyß, Redaktion Kassel

Nach internationalem Recht sind sogenannte »Push-Backs« illegal. Geflüchtete werden dabei gewaltsam über Grenzen zurückgedrängt, anstatt ihnen im Zielland einen Aufenthalt und/oder ein Asylverfahren zu gewähren. So wurde zum Beispiel 2020 nachgewiesen, dass die kroatische Polizei illegale Push-Backs an der bosnisch-kroatischen Grenze gegen Geflüchtete vornimmt. Auf Videos war mehrfach zu sehen, wie Menschen, die versuchten, nach Bosnien zu gelangen, geschlagen und zurückgedrängt wurden. Das kroatische Innenministerium bestritt dies und warf NGOs vor, sie wollten die Behörde diskreditieren und die Tatsache anzweifeln, dass Kroatien das Recht habe, seine Grenzen zu schützen. Mit dieser Argumentation hatten kroatische Behörden auch auf frühere Gewaltvorwürfe reagiert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hatte im Februar 2020 geurteilt, dass Push-Backs an der EU-Außengrenze unter gewissen Umständen erlaubt sind und nicht gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen. Hingegen kritisieren Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl regelmäßig Push-Backs an den EU-Außengrenzen.

Das Border Violence Monitoring Network macht darauf aufmerksam, dass Push-Backs sowohl gegen die Grundrechtecharta der EU als auch gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen. Das würden die Autoritäten der Mitgliedsstaaten aber ignorieren. Vor allem seit der Schließung der sogenannten Balkanroute 2016 hätte sich eine »gut koordinierte, systematische Praxis« entwickelt, die im Grenzregime der EU zunehmend verbreitet sei, aber nicht offiziell eingestanden werde. Das »Black Book« dokumentiert auf 1.500 Seiten alle Fälle, die dem BVMN vorliegen. Die tatsächliche Zahl der Opfer sei aber wahrscheinlich sehr viel höher.

Unmenschlich und gnadenlos

Insgesamt beinhaltet die Publikation die Fälle von 12.654 Menschen, die in Italien, Griechenland, Kroatien, Slowenien und Ungarn entlang der so genannten »Balkanroute« gewaltsames Zurückdrängen erfahren haben – verübt von Polizist*innen, Grenzschutz-Mitarbeiter*innen, Soldat*innen und sogar Wachhunden. Zur Dokumentation gehören Karten, Daten, Fotos und andere Schlüsselinformationen. Manche Fälle könnten zweifelsohne als sadistisch, gnadenlos, entwürdigend und beschämend beschrieben werden, so das BVMN.

15 Organisationen haben zu dem Buch beigetragen. Es ist entstanden in Zusammenarbeit mit der Fraktion der Linken im Europäischen Parlament, um diese Praxis in die Öffentlichkeit zu bringen – damit EU-Institutionen und die Regierungen der Mitgliedsstaaten endlich zur Verantwortung gezogen werden für die unmenschliche und herabwürdigende Behandlung, die Geflüchteten an den Grenzen widerfährt. Symbolisch haben deshalb die beiden Abgeordneten Malin Björk und Miguel Urbán das Buch der EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, in Brüssel präsentiert.

Die deutsche EU-Abgeordnete Cornelia Ernst sagte dazu: »Während meiner Zeit im EU-Parlament habe ich viele Ort in und außerhalb der EU-Grenzen besucht: Lampedusa, Lesvos, Edirne, Bihać, Preševo. Egal, wo wir hinkamen, wir haben Kinder, Frauen und Männer getroffen, die litten. In den letzten Jahren ist die Situation nur noch schlimmer geworden. Wir waren geschockt von den endlosen Berichten über sadistische und gnadenlose Gewalt, die an brutale Diktaturen erinnert. Das Buch bringt ein wenig Licht in dieses dunkle Kapitel der EU.« Sie hofft, dass die Veröffentlichung einen Beitrag leiste, damit diese Verbrechen enden und die verantwortlichen Regierungen zur Verantwortung gezogen werden.

Das BVMN ist ein unabhängiges Netzwerk von NGOs und Initiativen, vor allem aus Regionen des Balkans und Griechenland, die Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen der EU beobachten und für ein Ende der Gewalt gegen Geflüchtete eintreten. Gegründet wurde das Netzwerk 2016. Es hat ein Meldesystem entwickelt, um Erfahrungsberichte und Beweismaterial zu sammeln, die nach einer Faktenprüfung veröffentlicht werden. Freiwillige und Aktivist*innen von unterschiedlichen Organisationen, wie zum Beispiel »No Name Kitchen« oder »Collective Aid«, führen Einzelgespräche und Interviews mit kleinen Gruppen – und speisen die gesammelten Daten in eine standardisierte Vorlage ein. Sie erscheinen dann auf einer Karte mit allen Informationen zum Ort und den involvierten Personen. Auf Grundlage dessen gibt das BVMN einen monatlichen Report und umfangreiche Statistiken heraus.

Einer der letzten Erfahrungsberichte, der auf der Webseite von BVMN veröffentlicht wurde, handelt von einem Push-Back von sieben Personen, darunter auch Kinder, aus Kroatien nach Bosnien. Zwei Männer aus Algerien berichteten gegenüber »No Name Kitchen«, dass kroatische Polizist*innen sie aufgriffen und sie durchsuchten – dafür mussten sie sich komplett ausziehen. Sie mussten ihre Handys abgeben. Gemeinsam mit einer Familie aus Afghanistan wurden sie an die bosnische Grenze transportiert, wo eine andere Gruppe von Uniformierten die Geflüchteten in Empfang nahm. Alle mussten ihre Habseligkeiten, wie Ruck- und Schlafsäcke, abgeben – die anschließend von Polizist*innen in Brand gesetzt wurden. Danach wurden sie gezwungen, die Grenze zu überqueren und die EU damit wieder zu verlassen.

Das Schwarzbuch und viele weitere Berichte sind (in englischer Sprache) online verfügbar unter: www.borderviolence.eu

Titelbild: Aktivist*innen demonstrierten im April 2020 mit mehreren Mahnwachen in Hamburg gegen die Situation an den EU-Außengrenzen. Foto: Rasande Tyksar / flickr.com

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