Leben und Arbeiten im ländlichen Raum

Wie wollen wir auf dem Land leben im 21. Jahrhundert? Selbstbestimmt, ökologisch, demokratisch, weltoffen und solidarisch – das sind fünf knappe Antworten, auf die wir uns geeinigt haben. Alle weiteren Antworten, wie ein gutes Leben auf dem Land aussehen kann, versuchen wir gemeinsam herauszufinden. Unser Ziel ist es, ein Modell für bezahlbaren ökologischen Wohn- und Gewerberaum auf dem Lande zu entwickeln.

Roman Seifert, Hitzacker Dorf

Wir – das sind zur Zeit etwa 230 Genoss*innen der Genossenschaft Hitzacker/Dorf. Am Rand der Kleinstadt Hitzacker an der Elbe (5.000 Einwohner*innen) haben wir bis heute zwölf Mehrfamilienhäuser in ökologischer Bauweise gebaut. Gerade arbeiten wir am Innenausbau unseres Gesundheits- und Gemeinschaftshauses, das voraussichtlich im Sommer fertig wird. Im »Dorf« wohnen 68 Erwachsene und 26 Kinder unter 18 Jahre, die jüngste Genossin ist drei Monate alt, der älteste 80 Jahre.

Gestartet 2015 von einem kleinen Kern aktiver Menschen schälte sich allmählich die Vision heraus: Wir bauen ein Dorf für junge Familien, für Zugereiste und Geflüchtete, fürs Älterwerden. Wir schaffen eine Perspektive für Leben und Arbeiten im ländlichen Raum.

Wir wollen die Vorteile des Dorfes – wie etwa verbindliche Nachbarschaft – verbinden mit einem neuen Verständnis vom Leben auf dem Land: nachhaltig, interkulturell, weltoffen, demokratisch und solidarisch. Deshalb haben wir bewusst den Namen Hitzacker/Dorf für unsere 2016 gegründete Genossenschaft gewählt – obwohl wir uns als Teil von Hitzacker verstehen. Der Bewohner*innen-Struktur nach sind wir ein interkulturelles Mehrgenerationendorf.

Ein Teil unseres Grundstückes ist Gewerbemischgebiet: In unserer »Dorfstraße« haben sich eine Arztpraxis, ein Mitglieder-Bio-Laden, zwei Landschaftökolog*innen und ein IT-Unternehmen angesiedelt. Auf unserem kleinen Gewerbegrundstück entsteht eine Edelpilzfarm. Ein Co-Working-Büro und eine Firma, die ökologische Futons und Matratzen herstellt, kommen in den nächsten Monaten.

Der Dorf-Bau war und ist ein Prozess mit vielen Herausforderungen – beim Bau der Häuser, beim Gestalten der Grundstücksanlage, im Gemeinschaftsleben und bei den Finanzen. Bei unserem Planen und Handeln leitet uns stets der Gedanke, dass wir unseren ökologischen Fußabdruck so gering wie möglich halten und mit der Erde und allen Lebewesen achtsam umgehen.

Unsere Häuser haben wir mit ökologischen Baustoffen errichtet und regionale Handwerker*innen beschäftigt. Die Häuser sind in modularer Holzrahmenbauweise auf Streifenfundamenten entstanden. Tonnen von Lehm und ungebrannten Lehmziegeln sowie Holz, Stroh, Holzfaser und Glasschaumschotter haben wir verbaut. Seit April 2022 erstellen wir eine Bilanz im Sinne der Gemeinwohlökonomie. Eine Abschlusspräsentation dazu ist im Sommer geplant. Wir experimentieren mit Soli-Mieten und nachbarschaftlicher Hilfe, sodass auch Genoss*innen mit weniger Geld bei uns wohnen können.

Wir wollen eine verbindliche Nachbarschaft entwickeln, die alle Generationen und die Vielfalt der Lebenskulturen umfasst – »von der Wiege bis zur Bahre«. Das ist ein großes gemeinsames Experiment und wir ringen darum, was »verbindliche Nachbarschaft« heißt, seit wir den Begriff gefunden haben. Wie viel Gemeinschaft wollen und wie viel Individualität brauchen wir und wie leben wir miteinander mit den unterschiedlichen Wertvorstellungen und Lebenshaltungen?

Da das Dorf weitgehend autofrei ist, können Kinder draußen sehr frei spielen. Ältere Menschen sind bereit, die Familien mit ihren Kindern zu unterstützen – vom gemeinsamen Spielen, über Betreuung und Hausaufgabenhilfe bis hin zur »Patenopaschaft«, denn »es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen«. Die Dorfstraße wird somit zum Draußenzimmer für uns alle.

Die Bereitschaft der Nachbarschaftshilfe reicht insgesamt vom Miteinkaufen über Kinderbetreuung bis hin zu Sterbebegleitung. Viele von uns teilen sich Waschmaschinen, Kühlfächer, Garten- und Handwerksgeräte, Zeitungen, Räder und Autos oder Drucker. Im Mitgliederladen können wir günstig Biolebensmittel kaufen. Zudem nutzen wir weitere Einkaufskooperationen mit regionalen Bauern.

Das Gesundheits- und Gemeinschaftshaus, derzeit im Innenausbau, ist das zentrale Kommunikationszentrum des Dorfes. Hier gibt es einen großen Mehrzweckraum für gemeinsame Mahlzeiten, Treffen und Veranstaltungen sowie mehrere Gruppenräume. Ein gut ausgestattetes Pflegebad, eine Mitmachküche, eine Bibliothek und das Dorfbüro eröffnen viel Raum für ein aktives Miteinander sowohl für die Bewohner*innen des Dorfes als auch die umliegende Nachbarschaft in Hitzacker. Im ersten Stock bietet eine Mitwohnzentrale Zimmer für Gäste und Praktikant*innen. Darüber hinaus gibt es weitere Treffpunkte wie einen Raum der Stille und eine Fahrrad- und Elektroselbsthilfewerkstatt.

Das gemeinsame Bauen und Planen in Arbeitsgruppen prägte unsere Aufbauphase. Ein wichtiges Bindeglied zwischen Bau und Bewohner*innen ist etwa die Koch AG: seit mehreren Jahren gibt es an sechs Wochentagen bio-vegetarisches Essen zum Selbstkostenpreis für Bauhelfer*innen, Handwerker*innen und Bewohner*innen.

Viele Arbeitsgruppen sowie Beiräte und Vorstand entwickeln die Genossenschaft weiter. Dabei entscheiden wir demokratisch. Die Abstimmungsprozesse werden durch soziokratische Impulse belebt. So können alle Genoss*innen sich an den Entscheidungen beteiligen. Die Arbeitsgruppen vernetzen sich in thematischen Delegiertentreffen, z.B. Dorfentwicklungsplanung. Auf einem monatlichen Plenum werden grundsätzliche Fragen diskutiert und im Konsentverfahren gemeinsam entschieden. In allem gilt: »Die Weisheit der Gruppe ist mehr als die Meinung der Mehrheit«.

Eine interne Internetplattform unterstützt die Kommunikation untereinander und dient dem Austausch und der Organisation. Die Arbeitsgruppen dokumentieren ihr Tun, das macht das gesamte Geschehen transparent und nachvollziehbar. Mit Klausuren und Workshops, auch mit externer Unterstützung, vertiefen wir die Prozesse der gemeinschaftlichen Beratung und Entscheidungsfindung und entwickeln eine Kultur des Umgangs miteinander, etwa auch in Konflikten.

Jetzt, wo alle Wohnungen bezogen sind, beginnt eine Phase des »sich als Nachbar*innen Kennenlernens«. Die Beziehungen zwischen den Bewohner*innen wachsen organisch, wie in jeder anderen Siedlung auch. Wir fördern dieses Miteinander durch gemeinsam nutzbare Werkstätten, Ateliers und Küchen sowie weiteren Räumen im Gemeinschaftshaus, wie den Mehrzweckraum zum gemeinschaftlichen Mittagessen und für Veranstaltungen, Raum für Bewegung, Entspannung, Spiel, Tanz oder Stille.

Unsere Siedlung ist autofrei, das heißt wir haben keinen Durchgangsverkehr, nur etwa Postzustellungen. Wir teilen uns (Lasten-)Fahrräder, Handwagen und Autos. Zudem sind wir als Genossenschaft Mitglied im regionalen Carsharing-Verein. Die Anschaffung gemeinsamer E-Bikes und E-Autos ist geplant. Dabei merken wir: Ein Mobilitätskonzept auf dem Land, das Ressourcen schont und Mobilität gewährleistet, ist ein schwieriges Unterfangen.

Infos zur Genossenschaft: www.hitzacker-dorf.de

Infos zum gemeinnützigen Verein Dorfleben, der genossenschaftsnahe Projekte umsetzt:
https://dorfleben-hitzacker.de

Titelbild: Draußenzimmer für alle Bewohner*innen: die Dorfmitte von Hitzacker/Dorf. Foto: Hitzacker/Dorf eG

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