Ziviler Ungehorsam juristisch gesehen

Gibt es auch ein Widerstandsrecht in einer funktionierenden Demokratie? Das Grundgesetz verweist auf die Prinzipien des Artikel 20, nimmt also offenbar auch ein Widerstandsrecht an, wenn auf demokratischem Wege der Sozialstaat geschleift wird oder die Menschenrechte durch den Gesetzgeber missachtet werden. Rechtsstaat und Sozialstaat setzen der demokratischen Gesetzgebung also Schranken, was sicher rechtfertigungsbedürftig ist.

Andreas Fisahn, Universität Bielefeld

Ein wichtiges Argument für diese Beschränkung ist die Möglichkeit einer Diktatur der Mehrheit, die auch ein Widerstandsrecht gegen demokratisch zustande gekommene Gesetze rechtfertigt. Man denke etwa an die Diskriminierung der Afroamerikaner und »First Nation« in den USA, die bis weit in die 1960er Jahre auch gesetzlich gedeckt und nicht »nur« ein zivilgesellschaftliches Phänomen einer chauvinistischen, weißen Mehrheit war. Aus der Perspektive des Grundgesetzes wäre in diesem Fall ein Widerstand auch gegen demokratisch beschlossene Gesetze gerechtfertigt, da ein wesentliches Element der Ordnung des Art. 20 IV GG, die Gleichheit als Aspekt des formellen und materiellen Rechtsstaates betroffen wäre.

In der Gegenwart liegt das Problem allerdings in der demokratischen Substanz der gesellschaftlichen Realität. In der Diagnose besteht eine vergleichsweise große Übereinstimmung, die hier nur gleichsam in Überschriften wiedergegeben werden kann. Konstatiert werden ein Sub­stanzverlust der Demokratie und ein Verlust des Primats der Politik gegenüber »der Wirtschaft« oder »den Märkten«, die aus der Hegelschen Zivilgesellschaft zu einem eigenständigen Subjekt neben dieser und dem Staat aufgerückt sind. Folgen politische Entscheidungen oder »die Politik« externen Imperativen, werden demokratische Prozesse folgerichtig ihres Inhalts beraubt. Die Heteronomie politischer Entscheidungen führt zu einer Krise der Repräsentation, die vornehmlich in Stimmenthaltungen und Entpolitisierung, sekundär in deutlichen Abweichungen des Mehrheitswillens der Repräsentierten von den Entscheidungen der Repräsentanten sichtbar wird.

Die »Widerständigen Alten« plädieren vor dem Landgericht Koblenz für ihr Recht auf Widerstand gegen staatliches Unrecht — in diesem Fall gegen den Atomwaffenstandort Büchel. Foto: Stefanie Intveen

Der asymmetrische Klassenkompromiss der fordistischen Ära, der im korporatistischen Arrangement immerhin soziale Integration über eine plurale Repräsentation – wenn auch eine ungleiche – der relevanten gesellschaftlichen Gruppen beinhaltete, wird im neoliberalen Modell aufgelöst zugunsten eines Pluralismus der Oligarchien, bei dem die Repräsentativorgane bestehen bleiben, tatsächliche Entscheidungen aber oftmals neben den konstitutionell festgelegten Institutionen getroffen werden, indem sie auch formal übertragen werden auf oligarchische Gremien, die durch eine Überrepräsentanz der sozial mächtigen Gruppen zu kennzeichnen sind.

Das reicht von Expertenkommissionen bis zu privaten Rechtsetzungen – der informale Rechtsstaat wird formalisiert. Die Legitimation erfolgt weiter legal durch staatliche, gewählte Repräsentationsorgane, aber faktisch werden Entscheidungen ausgelagert. Sozial ohnmächtige Gruppen werden allenfalls als Feigenblatt integriert. Gleichzeitig werden die formalen Entscheidungsorgane gegenüber subalterner Einflussnahme abgeschottet und der öffentlichen Debatte entzogen. Das geschieht insbesondere über die Entscheidungsverlagerung auf die EU und andere supranationale Organe. Symbolisch sichtbar wird es, wenn das Volk, »der freche Lümmel«, in einem Mitgliedsstaat nicht so will, wie die Herrschenden in der EU geplant – dann wird noch mal abgestimmt: Volksabstimmungen über die Verträge wurden in Dänemark und Irland wiederholt; kürzlich ließ man in Griechenland nochmal wählen, um den Sieg der EU-Austeritätspolitik feiern zu können. Die demokratische Abschottung wird ergänzt durch die Schaffung von »Sachzwängen« über die Wettbewerbsordnung des Binnenmarktes, der strukturell auf Standortkonkurrenz angelegt ist und diese in Form von Sozial- und Steuerdumping produziert.

Colin Crouch hat diese Ordnung mit dem populär gewordenen Begriff Postdemokratie auf den Begriff gebracht: »Der Begriff bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.«

Foto: Stefanie Intveen

George Soros betont bei der Beobachtung des Prozesses der Entdemokratisierung die Dominanz wirtschaftlicher Interessen. Die Grundlage der Demokratie werde ausgehöhlt, indem bürgerliche Tugenden durch monetäre Werte verdrängt werden, so dass demokratische Prozesse nicht mehr das Gemeinwohl im Auge haben, sondern die Konkurrenzfähigkeit, was den Prozess der demokratischen Entscheidungsfindung entwerte und ineffektiv mache. So werde die demokratische Tugend weiter reduziert und der Verfall demokratischer Prozesse beschleunigt sich in einem Circulus vitiosus.

Aus der Perspektive des Insiders stellt Robert Reich ein exorbitantes Wachstum der Lobbygruppen aus der Wirtschaft fest, die zu einer Verdrängung anderer pluraler Interessen führe. Die gesteigerten Versuche der Einflussnahme wirtschaftlicher Interessen seien auf die neue globale Konkurrenz zurückzuführen, die einen intensiven Kampf um jeden (gesetzlichen) Wettbewerbsvorteil produziere. Politik verkomme so zum Austarieren der unterschiedlichen wirtschaftlichen, nicht mehr gesellschaftlichen Interessen, so dass die demokratischen Prozesse, wie öffentliche Diskurse um das Gemeinwohl und der Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe, nur stören.

So lässt sich mit Wilhelm Heitmeyer feststellen: »Es gibt eine fortschreitende Demokratie-Entleerung. Der politische Betrieb läuft, wie geschmiert sogar. Das ist schon für sich genommen ein Problem. Aber hinzu kommt: Die Substanz der Demokratie wird ausgezehrt. Ein oberflächlicher Indikator dafür ist die geringe Wahlbeteiligung.« Der Substanzverlust der Demokratie im Neoliberalismus – so lässt sich die aktuelle Entwicklung zusammenfassen – wird verschärft durch das Einflechten autoritärer Strukturen in Form von Elementen zentralistischer Kontrolle auf der Ebene der Europäischen Union. Die EU befindet sich auf dem Weg zu einer autoritären Wirtschaftsregierung.

Wenn die Analysen zutreffen – und vieles spricht dafür – und ein gravierender Substanzverlust der Demokratie konstatiert werden kann, folgt nach den obigen Überlegungen zum Geltungsgrund und dem Grund der Befolgungspflicht gegenüber gesetztem Recht, das dieser zumindest ausgesprochen schwach wird. Ohne demokratisches Recht keine Verbindlichkeit des Rechts, weil dieses keine ausreichende Legitimation besitzt. Oder anders herum: das Widerstandsrecht des Art. 20 IV GG lebt auf. Mit Blick auf die Rechtsprechung des EuGH hat Fritz Scharpf dies unmissverständlich formuliert: »Der einzige Weg ist, dem EuGH nicht zu folgen«. Die Frage der Rechtsbefolgung ist bei dieser Diagnose keine prinzipielle mehr, sondern eine strategische, wobei in die strategische Überlegung einfließen muss, dass auch durch die autoritäre Wirtschaftsregierung – anders als bei autoritären Regimen – die rechtsstaatlichen Garantien (bisher) weitgehend intakt blieben, die einige erst wirklich schätzen lernen, wenn sie ihnen genommen werden.

Prof. Andreas Fisahn lehrt Öffentliches Recht, Umwelt- und Technikrecht und Rechtstheorie an der Universität Bielefeld. Außerdem ist er Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac Deutschland.

Dieser Artikel wurde zuerst veröffentlicht in: Juridikum. Zeitschrift für Kritik/Recht/Gesellschaft 3/2012

Titelbild: Herbert Sauerwein

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