Seit Oktober gehen in Chile die Menschen auf die Straße, um gegen den neoliberalen Ausverkauf ihres Landes zu demonstrieren. Die Regierung begegnet diesem Aufbegehren mit starken Repressionen, die einige Einwohner*innen an die Pinochet-Diktatur erinnert. Unsere Autorinnen sind zurzeit in Chile und berichten für CONTRASTE aus der Stadt Valparaiso.
Johanna Brinkman & Lisa Vogler
Die chilenische neoliberale Regierung hat sich in einen sozialen Ruin gewirtschaftet: Der Mindestlohn von 301.000 chilenischen Pesos (340 Euro), den rund die Hälfte der Bevölkerung verdient, reicht bei steigenden Lebenshaltungskosten nicht mehr zum Leben aus, während Abgeordnete der Regierung mehr verdienen als der Vizepräsident der USA. Wir sehen, dass ein Land, das so viel für einen modernen Ruf und wirtschaftliches Wachstum tut, in dem Moment, in dem die Menschen zu Millionen auf die Straße gehen, lieber Geld für die Verstärkung des Militärs ausgibt, als gegen die sozialen Missstände.
Das reichste Prozent der Chilen*innen verdient 31 Prozent der Gesamteinkünfte des Landes. In Deutschland verdienen 12 Prozent diese 31 Prozent. Es geht hier nicht mehr nur um Arm und Reich, sondern es geht darum, dass ein Großteil der Bevölkerung über Jahrzehnte systematisch ausgebeutet wurde und weiterhin wird. Während der Militärdiktatur Pinochets wurden einige junge Wirtschaftswissenschaftler, unter ihnen der heutige Präsident Sebastian Piñera, nach Harvard zum Studieren entsandt. Diese sogenannten »Chicago Boys« brachten den extremen Neoliberalismus nach Chile. Chile wurde zu einem Wirtschaftsexperiment der amerikanischen Professoren Friedrich August von Hayek und Milton Friedman: Ein freier Markt mit möglichst wenig Regulierung.
Diese Ereignisse haben unter anderem zur Privatisierung von Wasser, Metro, Universität, Maut, Gesundheit und sogar von Flüssen, Gletschern und Buchten gesorgt. Es gibt Orte, an denen es kein Wasser mehr für die Menschen gibt, da z.B. große Avocadoexportfirmen sich mehr Wasserpatente kaufen können als die Menschen in den Dörfern.
Ausnahmezustand verhängt
Dieses neoliberale System funktioniert eindeutig nicht für die gesamte Gesellschaft: Jugendliche müssen sich hoch verschulden, um studieren zu können. Für die Alten reicht die Rente nicht für Arztbesuche und Medikamente. Die Rentenkasse AFP ist Pflicht und zieht zwölf Prozent des monatlichen Lohns der Menschen ab, errechnet jedoch den monatlichen Satz für die Rente mit einer Lebensdauer von 110 Jahren. Die Lebenserwartung in Chile lag 2018 bei 79,7 Jahren. Das restliche Geld geht nur an die Familie der Verstorbenen, falls diese kein Kind über 24 hinterlässt. Da die Menschen hier sehr früh Kinder bekommen, ist dies seltenst der Fall. Somit fließen Unmengen an Geld in die AFP.
Gegen diese systematische und meist legale Ausnutzung von Seiten der politischen und sozialen »Elite« gehen die Menschen nun seit Mitte Oktober auf die Straße. Mit Topfdeckeln und Holzlöffeln schlagen sie Alarm und geben ihrer Wut eine Stimme. Es kam innerhalb kürzester Zeit zu riesigen Demonstrationen. Von der Regierung wurde der Ausnahmezustand »Estado de Emergencia« ausgerufen. Dies bedeutet absolutes Versammlungsverbot, Ausgangsperre und Militär auf den Straßen.
Solch einen Zustand hatten die Menschen seit der Diktatur Pinochets nicht mehr gesehen. Besonders für die ältere Bevölkerung, die sich noch gut an die traumatischen Ereignisse der Diktatur erinnert, ist die heutige Situation wie ein Déjà-vu. Viele hätten nicht gedacht, dass sie so viel Angst und Schrecken nochmal erleben müssen. Diese Angst teilt die Jugend heutzutage nicht mehr. Sie haben miterlebt, wie ihre Großeltern und Eltern jeden Monat ihr Geld abrechnen müssen, um über die Runden zu kommen. Wie die indigene Bevölkerung im Süden Chiles kriminalisiert, beraubt und getötet wird.
Wasserwerfer und Tränengas
Dies sind kleine Eindrücke, warum sich so viel Wut angestaut hat. Es wurde die letzten Jahre immer wieder viel demonstriert, doch dieses Mal sind die Proteste von einem auf den anderen Tag auf das komplette Land übergeschwappt. Seit dem Beginn der Proteste hat sich die Selbstorganisation etwas gewandelt. Primär haben sich kleinere schon vorhandene Gruppen zusammengetan und zu Demonstrationen gegen bestimmte Themen aufgerufen. Städte und Regionen haben sich vereint. Komplette Familien sind mitgelaufen. Dabei sind riesige Demozüge von mehr als sieben Kilometern Länge entstanden. Oft konnten leider nicht alle beteiligten Demos zusammentreffen, da vorher mit Wasserwerfern und Tränengas die friedlichen Massen auseinander getrieben wurden.
Bei diesen demonstrierenden Massen haben wir keine einzige Flagge von einer politischen Partei gesehen. Denn es geht um mehr als eine politische Orientierung. Während dieser Demos ist es in den Großstädten jeden Tag zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrierenden gekommen. Die Politik stellt auf stumm und antwortet mit noch mehr Repression und sehr viel Gewalt gegenüber den Menschen. So wird momentan gezielt auf die Augen der Demonstrierenden geschossen. Angeblich mit reinen Hartgummigeschossen. Dies zweifeln einige Mediziner*innen an. Ihrer Meinung nach enthalten die Kugeln Metallteile.
Laut des INDH, eine chilenische Menschenrechtsorganisation, waren bis zum 14. November unter den 2.365 stationär betreuten Verletzten 217 Personen mit schweren Augenschäden. Des Weiteren sind mindestens 6.199 Menschen verhaftet und von der Polizei einbehalten worden. Am 26. Oktober gab es schon 20 Tote. Die aktuelle Zahl ist schwer herauszufinden. Das alles in nur vier Wochen.
Gegen das eigene Dorf
Doch viele Menschen haben keine Angst mehr vor der Repression. Durch Aktionen wie Schüsse und Tränengasbomben in einem Krankenhaus, in einem Mädchengymnasium, gegen Alte und Hunde, durch das Rauben von Fernsehern und das Entziehen von einem Rollstuhl eines friedlich Demonstrierenden hat die Polizei jegliches Ansehen verloren. Sie hat sich gegen das eigene »Pueblo« (Dorf) gewandt und das mit so viel Hass und Gewaltbereitschaft, dass viele sich nur noch fragen: Wie können Menschen zu so etwas in der Lage sein?
Inzwischen sind die riesigen Großdemos vereinzelter geworden. Es gibt sie immer noch, aber nicht mehr täglich. Nun treffen sich die Menschen zu öffentlichen Versammlungen namens »Cabildos«, Kundgebungen, Konzerten, Fahrraddemos und gemeinsamen künstlerischen Aktionen auch auf öffentlichen Plätzen. Es gibt »Velatones« (Demos mit Kerzen) für die Ermordeten, Gefolterten und Verletzen. Es wird viel geredet, zugehört, diskutiert, Wissen geteilt, beratschlagt und angeklagt. Es gibt Cabildos mit unterschiedlichen Schwerpunkten, z.B. Medioambiente (Umwelt), Künstler*innen, Feminismus.
Zu dem feministischen Cabildo, an dem wir teilgenommen haben, sind über 150 Frauen gekommen, morgens und unter der Woche. Es wurde in kleinen Gruppen diskutiert und organisiert. Jede Frau hat ein anderes Aktionspotenzial: Die eine will gerne mitdemonstrieren, die andere bereitet Essen für diejenigen vor, die nicht mehr demonstrieren wollen oder eine Auszeit brauchen, wieder eine andere passt auf eine Horde Kinder auf, damit auch alleinerziehende Mütter ihrer Form des Protest nachgehen können.
Durch diese Organisation und die Zusammenkünfte sind in Valparaiso, wo die Repression mit am stärksten ist, mehrere »Espacios seguros« (sichere Orte) entstanden. Hier finden die Menschen Erste Hilfe, einen Ort zum Durchatmen, Menschen zum Reden und ab und an sogar beruhigende Floraltherapie. Die gesamte Stadt ist zum Ausdruck der Proteste geworden. Streetart, Sticker und ganze Wände erzählen, was auf den Straßen und in den Köpfen vorgeht. Spannend an der bestehenden Bewegung ist, dass sie komplett von unten aufersteht.
Obwohl die Menschen unterschiedlicher nicht sein könnten, sind sie doch in einem tief verbunden: Sie wollen nicht mehr ausgebeutet werden. Außerdem ist die Art und Weise, mit der die Regierung und die Polizei auf die Proteste reagieren, eine schwerwiegende, systematische Verletzung der Menschenwürde. Es sind Menschen gestorben, gefoltert und verletzt worden. Das darf nicht ungestraft bleiben. Solidarität mit Chile!
Titelbild: Ignacia Flores Rivera