Verurteilt trotz falscher Anschuldigung

Rassistische Polizeigewalt und willkürliche Kontrollen von Schwarzen Menschen und People of Color sind in Deutschland eine gängige und scharf zu verurteilende Praxis. Dennoch wissen die wenigsten wirklich, was das für Betroffene bedeutet – geschweige denn, welche weitreichenden Auswirkungen diese Repressionen auf das Leben der Betroffenen haben können. Exemplarisch wird im folgenden Text der Fall von R. aus Göttingen geschildert. R. möchte aus gegebener Situation anonym bleiben.

R. und AK Asyl Göttingen

Seit mehreren Jahren lebt und arbeitet R. in Göttingen, hat Familie und ein soziales Netz. R. ist eine Schwarze Person. Er erlebte im Sommer 2022, nahe des Carré-Einkaufszentrums in Göttingen, massive Polizeigewalt und muss nun um seinen Aufenthalt bangen. Die auf die Gewalt folgende Anklage ist die Konsequenz einer willkürlichen, haltlosen und vor allem falschen Anschuldigung durch eine Security-Person des Einkaufszentrums.

Im Sommer 2022 ruft ein Security-Mitarbeiter die Polizei, nachdem er R. im Einkaufszentrum Carré »wiedererkannt« haben will: R. sei die Person, die 2021 im Einkaufszentrum eine Körperverletzung begangen haben soll. Doch die Beschuldigung hat keinerlei Basis, da R. sich zum vermeintlichen Tatzeitpunkt nachweislich in seiner Arbeitsschicht – weit weg vom Carré – befand. Die Polizei kommt und fragt R. auf der Straße nach seinem Ausweis. R. ist nachvollziehbar irritiert und fragt mehrfach nach, warum er sich ausweisen soll. Die Polizist*innen verweigern ihm die Antwort. Auch sprechen die Polizist*innen ausschließlich Deutsch mit R., trotz seiner Bitte, ins Englische zu wechseln.

Die Situation ist aufgeladen und es gibt eine zunehmende Anzahl an Beobachter*innen und Zeug*innen, mehrere Menschen machen Videos. Die Polizei fragt immer und immer wieder nach dem Ausweis. R. wundert sich über diese für ihn aus dem Nichts kommende Kontrolle. Aus dem Gerichtsprozess, der später folgen wird, wissen wir, dass die zwei Streifenpolizist*innen bereits jetzt, wenige Minuten nach der ersten Aufforderung, den Ausweis vorzuzeigen, Verstärkung und einen Wagen zum Abtransport auf die Polizeiwache rufen. Es ist noch nichts passiert, außer der unbegründeten Aufforderung an R., sich auszuweisen. Nach einiger Zeit zeigt R. die Papiere, die er bei sich hat vor, will sie den Polizist*innen aber nicht ohne Auskunft über den Grund der Kontrolle übergeben. Statt den Anlass der Kontrolle transparent zu machen, wird die Polizei gewalttätig. Zwei Polizist*innen fixieren R. und schreien die umstehenden Personen an. Sie drücken R. gegen eine Hauswand und zerren ihn schließlich auf die weiterhin befahrene Straße.

Zwei Polizist*innen bringen R. mitten auf der Straße vor etwa 30 Zuschauer*innen zu Boden. Zu dritt fixieren sie ihn auf der Straße mit den Knien. Nach einer ganzen Weile wird R. gefesselt, hoch gezerrt und zu dem mittlerweile angekommenen Polizeiwagen gebracht. Immer noch erklärt keine der Polizist*innen, worum es geht. R. wird in das Auto geschubst und, wie R. uns später erzählt, von einer Polizist*in (als er schon im Wagen sitzt und in Handschellen gelegt ist) in die Rippen geschlagen. Dass R. bei dieser gewaltvollen Aktion einen Schuh verliert, interessiert die Beamt*innen nicht im Geringsten. R. wird einfach barfuß mitgenommen.

Zur Erinnerung: All das geschah als Folge einer falschen Anschuldigung. Die Tat, die die Personalienkontrolle rechtfertigen sollte, konnte R. nicht begangen haben, da er zum Tatzeitpunkt nachweislich auf der Arbeit war. Dennoch wird er in aller Öffentlichkeit, vor den Augen vieler Passant*innen, gewaltsam festgenommen, in Handschellen gelegt und auf die Wache genommen. Auf der Polizeiwache muss er sich für etwas rechtfertigen, das er nie begangen hat. Eine Eskalation einer Situation, deren brutale Polizeigewalt allein den Zweck einer unterdrückerischen, demütigenden und rassistischen Machtdemonstration erfüllt. Bei den Zuschauer*innen wird somit das Bild eines gefährlichen Kriminellen kon­­struiert.

Doppelte Anklage statt Entschädigung

Eigentlich hätte R. eine Entschuldigung und Entschädigung für die erlebte Gewalt, die falsche Beschuldigung und die öffentliche, demütigende Festnahme verdient. Doch stattdessen muss R. sich auf einmal in gleich zwei Gerichtsprozessen verteidigen: erst die falsche Anklage der Körperverletzung, die der Security-Mann 2021 beobachtet haben will und obendrauf beschuldigen ihn die Polizist*innen nun zusätzlich der Körperverletzung und des Widerstands im Rahmen der Personalienkontrolle.

Zunächst wird in einem ersten Verfahren schnell festgestellt, dass R. unschuldig ist: Er kann nicht die Person sein, die der Security-Mann erkannt haben will, da er zum Tatzeitpunkt auf der Arbeit gewesen ist. R. wird nach kürzester Zeit freigesprochen, das Urteil liegt bereits vor, als der zweite Prozess beginnt. Umso deutlicher wird hier, dass all die Polizeigewalt und das martialische Auftreten der Beamt*innen völlig haltlos war. Der Ablauf des zweiten Prozesses macht schlichtweg fassungslos. Eigentlich gingen R. und sein Anwalt davon aus, dass die Chancen für einen Freispruch gut stünden. Schließlich konnte auf Videodokumentationen zurückgegriffen werden, die die Polizeigewalt bei der Personalienkontrolle ausführlich dokumentiert haben.

Was aber tatsächlich folgt, kann nur als ein absurdes, zynisches Theater bezeichnet werden. Der Prozess findet in vier Einzelterminen statt und dauert insgesamt mehr als sechs Stunden. In dieser Zeit spricht R.s Anwalt vielleicht 20 Minuten, R. selbst kommt überhaupt nicht zu Wort. Die gesamte restliche Zeit hören R. und solidarische Beobachter*innen den Polizist*innen der Reihe nach zu, wie sie eine komplett andere, erfundene Geschichte erzählen. Diese ist durchzogen von rassistischen Zuschreibungen, absurden Anschuldigungen und der Behauptung, Schuld an der Eskalation der Situation sei der »aufgebrachte unüberschaubare linke Mob«, also die Zeug*innen der Situation. Auch R. wird pauschal als aggressiv und gewaltbereit bezeichnet, was weder von der Staatsanwaltschaft noch von der Richterin hinterfragt wird. Auf Nachfrage der Verteidigung muss die anklagende Polizei dann einräumen, dass R. weder handgreiflich noch beleidigend geworden ist. Das gewaltsame Runterdrücken von R. durch drei Polizist*innen wird zum »unschönen Bodenkampf« verklärt, dass R. gestolpert ist, während er abgeführt wurde, wird als »Versuch, sich gewaltvoll loszureißen« interpretiert. Eine Polizist*n gibt zu, R. geschlagen zu haben, aber beschreibt dies als notwendige Maßnahme, um R. »ruhigzustellen«. R. saß zu diesem Zeitpunkt allerdings schon in Handschellen im Polizeiauto. Zynisch wird hinzugefügt, es könne ja nicht weh getan haben, da R. nach dem Schlag gar nicht aufgeschrien habe.

Aufenthaltserlaubnis in Gefahr

Das Urteil ist niederschmetternd: R. wird schuldig gesprochen und zu sechs Monaten Haft auf Bewährung (für drei Jahre) und 80 Sozialstunden verurteilt. Es ist absurd, wie hoch dieses Urteil ausfällt; noch viel absurder, da R. vollkommen unschuldig ist. Er geht sofort in Berufung, das Verfahren steht noch aus. Aber damit ist die Schikane immer noch nicht beendet: Von dem Ausgang des Berufungsverfahrens wurde nun die Verlängerung von R.s. Aufenthaltserlaubnis abhängig gemacht.

Es darf nicht sein, dass das Recht auf ein gutes, würdevolles und vor allem sicheres Leben von willkürlichen Anschuldigungen, rassistischen Polizeibehandlungen und Gerichtsverfahren abhängt. Das Strafmaß hinterlässt pure Fassungslosigkeit und Wut und die Frage, von welcher politischen Unabhängigkeit und Neu­­tralität der Gerichte eigentlich immer die Rede ist.

Der Fall von R. ist ein Beispiel und steht exemplarisch für viele weitere solcher rassistischer Fälle. Es braucht dringend mehr kritische Prozessbeobachtung und vor allem die Veröffentlichung dieser Geschichten, um diese Ungerechtigkeit aus der Unsichtbarkeit zu holen. Es darf nicht akzeptiert werden, wenn Polizist*innen und Richter*innen sich unter dem Deckmantel der »demokratischen Allparteilichkeit« tarnen, aber in der Realität nur die Machtvolleren (hier Polizist*innen) gehört und ernst genommen werden. Es handelt sich hier um einen politischen Prozess, bei dem die Zusammenarbeit von Security, Staatsanwaltschaft, Polizei und Justiz gegen Schwarze Menschen deutlich wurde. Solche Prozesse und Verurteilungen beeinflussen die gesellschaftliche Entwicklung und schüren nur noch mehr Rassismus. Immer wieder dominieren die Argumente der Behörden den Ausgang des Prozesses und nehmen Schwarzen Menschen die Stimme.

So beschreibt auch R., dass ihm niemand geglaubt habe und wie erdrückend diese rassistische Behandlung und Ungerechtigkeit auf so vielen Ebenen für ihn sei. Viele Schwarze Menschen werden in Gerichtsprozessen kriminalisiert. Umso wichtiger ist es daher, eine große Solidaritätsbewegung und öffentliche Mobilisierung aufzubauen, solche Prozesse kritisch zu begleiten und gemeinsam der Kriminalisierung Schwarzer Menschen entgegenzutreten.

Titelbild: »Hautfarbe ist kein hinreichender Verdacht«. Foto: Michael Fleshman (CC BY-SA 2.0 Deed)


AK Asyl Göttingen

Der AK Asyl Göttingen ist eine seit über 40 Jahren existierende antirassistische Gruppe (organisiert als Verein), die vor allem zu den Themen Asyl, Migration und Rassismus arbeitet. Um den AK gibt es einige Bündnisse gegen Abschiebungen und Rassismus sowie internationalistische Netzwerke, die viel und aktiv im Austausch mit Betroffenen sind. Seit etwa eineinhalb Jahren existiert in Göttingen ein Antiabschiebecafé, das einmal pro Woche stattfindet. Es ist eine Anlaufstelle für Menschen, die von Abschiebung bedroht sind oder auch von Repressionen und Diskriminierung betroffen sind. Das Café ist von Aktivist*innen selbstorganisiert und daher keine offizielle Beratung. In den Gesprächen kommen wir sehr oft in Kontakt mit Geschichten von Repressionen, Polizeigewalt, Rassismus und Abschiebung. Wir versuchen, diese Geschichten aus der Unsichtbarkeit zu holen und gemeinsam mit Betroffenen zu überlegen, wie Themen öffentlich und skandalisiert werden können.

Kontakt: akasylgoe@emdash.org

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