Mit Selbstorganisation das Leben bewältigen

Mahir (Name geändert) macht vor allem Öffentlichkeitsarbeit rund um das Thema »Rojava« und hat persönliche Kontakte vor Ort. Speziell involviert ist er in der Kultur- und Bildungsarbeit in kurdischen Studierendengruppen an der Uni Frankfurt und im Students Defend Kurdistan-Aktionsbündnis, das er und andere letzten Herbst gegründet haben. Im Gespräch mit CONTRASTE berichtet er über Ungleichbehandlung und Lücken in der Berichterstattung bezüglich des Erdbebens und im größeren Kontext des Krieges.

CONTRASTE: Hallo Mahir! Welches Thema nimmt bei dir denn gerade am meisten Raum ein?

Mahir: Aktuell natürlich das Erdbeben in Kurdistan, Türkei und Syrien. Leider sind jetzt die meisten Menschen obdachlos, vor allem in Rojava sind Menschen hart getroffen. Als Mensch ist mir aber auch die Region darüber hinaus wichtig.

Kannst du eine Einschätzung mithilfe deiner persönlichen Kontakte vor Ort abgeben, wie die Infrastruktur dort ist und wie sich die Betroffenen gerade fühlen?

Es ist schlimm, weil es keine richtige Infrastruktur mehr gibt, sei es Wohnraum, Wasserversorgung oder Stromversorgung. Es ist jetzt eigentlich nur noch eine Frage der Zeit, bis dort auch zum Beispiel die ersten Krankheiten ausbrechen. In Nordsyrien gab es schon vorher Cholera-Ausbrüche, auch durch die Wasser-Engpässe, die die türkische Regierung durch den Bau von Staudämmen ausgelöst hat. Um das Leben trotzdem zu bewältigen, muss die Selbstorganisation vor Ort funktionieren.

Zum Thema Selbstorganisation: Wie wird das gerade konkret erschwert?

Das wird vor allem durch den türkischen Staat, aber auch durch den syrischen Staat erschwert, weil diese darauf beharren, dass die Katastro­phenhilfe zentralisiert wird oder bleibt. Einzig der türkische Rote Halbmond oder die türkische staatliche Katastrophenhilfe sollen helfen. Die Realität ist aber, dass sie das nicht stemmen können. Erstens haben sie nicht genug Ressourcen. Zweitens gibt es bei der Erdbebenhilfe Korruption, sodass kurdische und alevitische Menschen keine Hilfe bekommen. Jetzt im Nachhinein ist nicht das Erdbeben selbst das größte Problem, sondern die Art und Weise, wie mit dieser Katastrophe umgegangen wird. Das Hauptproblem beim Erhalten der Hilfeleistungen in Nord- und Ostsyrien ist, dass die Selbstverwaltung nicht anerkannt wird. Auch internationale Hilfe, die in Syrien ankommt, geht über den arabischen Halbmond oder den syrischen Roten Halbmond. Diese staatlichen Organisationen arbeiten nicht mit der Selbstverwaltung zusammen, sondern der Staat versucht, diese zu zerschlagen. Die Antwort auf Selbstverwaltung ist oft Zwangsverwaltung. Aber ohne die selbstorganisierte Nothilfe aus dem Ausland würde alles komplett zusammenbrechen.

Wie würdest du sagen wird der Verlauf der Unterstützung bzw. die Ungleichbehandlung dabei medial dargestellt?

Natürlich wurden viele Berichte der türkischen staatlichen Medien übernommen und sehr unkritisch über die Situation berichtet. Insgesamt wurde sehr wenig über die Realität der Kurd*innen berichtet. Das ZDF-Interview mit Fee Baumann, Helferin vor Ort beim kurdischen Roten Halbmond, war eine positive Überraschung.

Dann gibt es noch die sozialen Medien, die da anders funktionieren. Da kann man im Grunde in Echtzeit nachverfolgen, inwieweit die Hilfsleistungen ankommen oder nicht. Man hat Kontakt zu Familienmitgliedern, wenn die Infrastruktur erhalten geblieben ist. Soziale Medien spielen eine wichtige Rolle, aber sie sind natürlich kein herrschaftsfreies Medium.

Was meinst du damit konkret?

Als Erdogan die Erdbebengebiete besucht hat, wurde Twitter sozusagen gedrosselt. Twitter konnte man dann nicht mehr erreichen in der Region. Natürlich in der Vermutung, dass die Leute ihre Wut geäußert hätten, bis hin zu Protesten und Aufständen gegen Erdogan. Allgemein werden auch sehr viele Unwahrheiten verbreitet. Es wird sehr stark gegen syrische geflüchtete Menschen gehetzt. Es wurden wohl gezielt Lügen über sie verbreitet, um von dieser Katastrophe und von der Mitschuld der Regierung abzulenken. Ich vermute tatsächlich, dass dort Institutionen mitwirken. Das Erste, was einem da einfällt, ist natürlich der Wahlkampf, der schon vor dem Beben begonnen hat. Erdogan selbst soll eine 6.000-köpfige Troll-Armee auf Twitter haben. Also Menschen, die auf türkischen Nachrichtenseiten pro Regierung posten und gegen Oppositionelle hetzen. An anderen Stellen auf kurdischen Nachrichtenseiten tauchen wiederum Berichte auf, dass kurdische, oft junge Aktivist*innen, von der Polizei entführt, gefoltert und dann auf der Straße ausgesetzt wurden.

Was erfährt man denn in den öffentlichen Medien über die weitergehenden Angriffe?

Der Krieg, der weitergeht, geht von der türkischen Regierung aus. Es ist so, dass die Luftangriffe auf Gebiete in Nordsyrien in der ersten Nacht nach dem Erdbeben unserer Kenntnis nach die einzigen Angriffe waren, die es in die deutschen, öffentlichen Medien geschafft haben. Seitdem finden weiterhin Angriffe statt.

Es gibt seit Jahren immer wieder Luftangriffe auf die Region. Die Region baute sich nach dem Sieg gegen den IS gerade wieder auf. Zusätzlich dazu hält das Embargo von der syrischen Regierung auf das selbstverwaltete Gebiet an.

Wäre nicht auch gerade eine neue Chance für emanzipative, feministische Außenpolitik?

Annalena Baerbock spricht seit ihrem Amtsantritt davon, feministische Außenpolitik zu machen und die Grenzen für die Selbstverwaltung zu öffnen. Gebiete in Nordsyrien sollen so Hilfe bekommen können. Da passiert aber eindeutig zu wenig. Die kurdische Freiheitsbewegung hat einseitig einen Waffenstillstand ausgerufen. Das wäre auch eine Chance für einen Neuanfang in der Region, die auch die Bundesregierung ernst nehmen könnte. Die Antwort vom türkischen Staat ist nur, den Krieg rund um Rojava weiterzuführen. Auch in Südkurdistan/Nordirak greift die türkische Armee weiterhin die Guerilla an, sogar mit verbotenen Waffen wie Phosphorbomben.

Was denkst du, warum verschließen die deutsche Bundesregierung und andere Regierungen der westlichen Welt die Augen vor der Situation?

Ich denke, dass es einerseits um die Außenpolitik geht und die Türkei ein wichtiger Partner ist, gerade vor allem im Ukraine-Konflikt. Die Türkei spielt ja bekanntermaßen auf beiden Seiten und man will sie nicht verlieren. Ich glaube auch, dass es vielen darum geht, den Bruch der kurdischen Gesellschaft mit dem Staat zu unterdrücken. Seit 50 Jahren gibt es Widerstand gegen den türkischen, syrischen, iranischen und irakischen Staat. Die Freiheitsbewegung hat seit 2000 mit den Ideen von Abdullah Öcalan zum demokratischem Konföderalismus nochmal einen Aufwind erlebt. Ich denke, dass wir uns auch hier in Europa selbst organisieren und die Staatsgläubigkeit verlieren müssen. Wir kleinen Initiativen machen weiter, damit wir mehr Menschen erreichen, die dann darüber nachdenken, was dort passiert, denn die großen Medien berichten nicht darüber.

Wie können Menschen am besten unterstützen?

Was die Erdbebenhilfe angeht: Man kann hinfahren und selbst vor Ort mit anpacken, wenn man die Zeit und die Ressourcen dafür hat. In Sachen Spenden: In Frankfurt haben wir an der Uni Spenden gesammelt, die kurdische Jugend und der kurdische Verein in der Stadt. Dabei geht es nicht nur um das Geld, sondern auch um die Aufklärung der Menschen, finde ich. Aufpassen wiederum muss man mit Spenden an die türkische Katastrophenhilfe oder den türkischen Roten Halbmond, die diese Hilfen nach rassistischen Maßstäben verteilen. Als Organisationen empfehle ich vor allem Heyva Sor a Kurdistanê (Kurdischer Roter Halbmond), medico international oder lokale, selbstorganisierte Initiativen.

Das Interview führte CONTRASTE-Autor Tom Zeder.

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Stichwort: Nothilfe Erdbeben

Titelbild: Solibanner für Rojava im Dannenröder Forst während der Besetzung im Herbst 2020. Foto: Tom Zeder

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