Femen und (moderner) Feminismus

Spätestens seit Mitglieder der feministischen Gruppe »Femen« (siehe Infokasten unten) einen Fototermin mit Bundeskanzler Olaf Scholz im August 2022 für eine »sextremistische« Aktion nutzten, ist die Gruppe wieder präsent in der Öffentlichkeit. Die auf Grund ihrer Aktionsformen kontrovers diskutierte Gruppe kann als ein radikaler Flügel des aktuellen Feminismus bzw. Postfeminismus1 betrachtet werden. CON­TRASTE-Autor Maurice Schuhmann führte das folgende Interview mit Aktivistin Hellen im Juli 2023 per Mail.

CONTRASTE: Hellen, du bist eines der bekanntesten Gesichter von Femen Deutschland und gehörst zu den Gründungsmitgliedern der deutschen Sektion. Kannst du dich bitte kurz vorstellen und erzählen, wie du zu den Femen gekommen bist?

Hellen: Ich bin 33, Heilpraktikerin für Psychotherapie, arbeite als persönliche Assistenz im Pflegebereich und wohne seit fünf Jahren in Berlin. Ursprünglich komme ich aus Hamburg. Auf Femen bin ich 2012 durch ihre Aktionen zur Fußball-Europameisterschaft 2012 aufmerksam geworden und habe kurz darauf mit drei weiteren Frauen Femen Germany gegründet. Ich stand damals, mit Anfang 20, in meiner Politisierungsphase, die Aktionen von Femen in der Ukraine beeindruckten mich sehr.

Was bedeutet für dich persönlich »Feminismus«? Es ist ja ein sehr schillernder Begriff, der gleichzeitig sehr unterschiedlich ausgelegt wird.

Feminismus ist in den letzten Jahren sehr populär geworden – das hat wie bei allem Vor- und Nachteile. Ein Fehler, der häufig passiert, ist Feminismus mit Selbstbestimmung gleichzusetzen. Die Selbstbestimmung der Frau ist ein Teil des feministischen Kampfes, aber nicht das Gleiche. Eine Person kann auch selbstbestimmt unfeministisch handeln. Feminismus bedeutet für mich die Befreiung und Gleichstellung der Frau mit Anerkennung und Integration der Unterschiede. Es ist ein Kampf um Fairness, Sicherheit und Chancengleichheit.

In den Selbstdarstellungen von Femen ist häufiger von Femen als Teil der aktuellen »vierten Welle« des Feminismus die Rede. Was zeichnet deiner Meinung nach diese Welle aus?

Gute Frage! Vielleicht wäre es wichtig, zu benennen, was sich unter Vierte Welle-Feminismus verstehen lässt, denn inhaltlich sind wir eher bei der zweiten Welle des Feminismus2. Die vierte Welle des Feminismus findet viel im Internet statt. Manches ist neu, manches ist alt. Auch wir verbreiten unsere Proteste übers Internet, vor allem auf Instagram. Zudem versuchen wir, die feministischen Kämpfe unserer Vorreiterinnen fortzusetzen, zum Beispiel zum Thema Abtreibung, die Abschaffung der Paragrafen 218ff im Strafgesetzbuch3. Was uns wahrscheinlich von der vierten Welle unterscheidet, ist, dass wir nicht der Auffassung sind, Männern Platz in unseren Rängen gewähren zu müssen. Was wir gut finden und womit wir uns identifizieren können, ist, dass versucht wird, für die immer noch bestehenden Problematiken neue Lösungsansätze zu finden.

Als Aktionsform setzen die Femen auf den »Sextremismus«, eine Form des »Oben ohne«-Protests. Von feministischen Kreisen wird euch dabei vorgeworfen, dass ihr durch das Zeigen eurer entblößten Brüste die Sexualisierung des weiblichen Körpers bzw. der weiblichen Brust noch bedient. Bilder von euren Aktionen werden mittlerweile gar auf Pornoseiten angeboten. Was antwortet ihr auf diese Kritik bzw. wie geht ihr mit der Sexualisierung eurer Körper um?

Es liegt leider nicht in unserer Hand, das zu reglementieren (auch wenn wir gerne die meiste Pornographie gänzlich abschaffen würden). Wir machen unseren Protest und schaffen Bilder mit einem natürlichen, kampfbereiten weiblichen Körper – beschriftet mit Slogans, die unsere Überzeugung ausdrücken. Wir haben dabei nicht den Anspruch, sexy zu sein oder zu gefallen. Sexualisierung liegt immer im Auge des Betrachters. Wir sehen unsere Protestform als einen Akt der selbstbestimmten Entscheidung über unsere Körper und setzen ihn zu unseren politischen Zwecken ein. Natürlich leben wir aber in einer Gesellschaft, die alles sexualisiert was eine Frau tut, deshalb überraschen uns auch die Vorwürfe wenig.

Der Akt des Sich-Ausziehens ist in unserer Gesellschaft ein intimer Akt. Was ist das für dich für ein Gefühl, wenn du dich bei einer Aktion ausziehst und deine Brüste zeigst? Was geht dir in einem solchen Moment durch den Kopf?

Da wir beschriftet sind, komme ich mir eigentlich gar nicht so nackt vor. Sobald es an die Vorbereitung geht, wir uns anmalen, uns die Plakate schnappen und den Blumenkranz aufsetzen, fühle ich mich fast wie eine Schauspielerin, die sich auf ihre Rolle vorbereitet. Bei jeder Aktion ist der Adrenalinspiegel hoch. Wir konzentrieren uns darauf, unseren Protest möglichst erfolgreich durchzuziehen. Es gibt wenig Zeit, darüber nachzudenken, dass man halb nackt ist.

Eine Aktionsform wie der Sextremismus scheint ja auf heterosexuelle Männer gemünzt zu sein, das heißt ein »Busenattentat« auf Bundeskanzlerin Angela Merkel hätte wahrscheinlich nicht eine solche Wirkung erzielt. Wie geht ihr damit um, dass vielleicht auch Politikerinnen heutzutage verstärkt antifeministische Positionen vertreten und umsetzen? Reicht da diese auf Männer konzentrierte Kampfform noch aus?

Es ist keine nur auf Männer konzentrierte Kampfform, wir wenden den Sextremismus auf alle an, mit deren Politik wir nicht einverstanden sind. Es gab tatsächlich schon eine Aktion, bei der wir versucht haben, möglichst nah an Angela Merkel heranzukommen, damit sie sich für die Freilassung einer unserer inhaftierten Aktivistinnen einsetzt. Auch gegen Marine Le Pen (französische Politikerin der extremen Rechten, Anm. d. Red.) hat Femen schon Aktionen gemacht.

Dass es heute einige Politikerinnen sogar in Führungspositionen gibt, wie zum Beispiel die Regierungschefin Meloni in Italien, die sich antifeministisch verhalten, ist für mich nicht verwunderlich. Eine Frau zu sein, heißt nicht gleich feministisch zu handeln. Wir leben nach wie vor im Patriarchat – ein System geschaffen von Männern für Männer, in dem diese profitieren. Um dort erfolgreich zu sein und um mitspielen zu können, passen sich manche Frauen diesem männlichen Verhalten und Politikstil an und haben damit Erfolg. Häufig dienen diese Frauen auch als Alibi und haben eine Vorzeigefunktion, ganz nach dem Motto: »Was beschwert ihr euch eigentlich? Wir haben doch eine Frau in einer Führungsposition.« Doch wirkliche feministische Politik sieht anders aus. Wir brauchen mehr als je zuvor Frauen ganz vorne in der Politik und in Führungspositionen, die feministisch handeln und eine Vorbildfunktion übernehmen, die nachfolgenden Generationen zeigt, dass Veränderung möglich ist.

Das Spektrum der Themen, die ihr aufgreift, ist breit. Begonnen hat es mit Protesten gegen IKEA, ging über Aktionen in der Hamburger Herbertstraße (eine Bordellstraße, Anm. d. Red.) und Störaktionen gegen Heidi Klums »Germanys Next Topmodel« bis hin zu Unterstützungsaktionen für iranische Feministinnen. Nach welchen Kriterien werden die Themen ausgesucht? Wie läuft der Entscheidungsprozess intern ab?

Das, was unsere Themen verbindet, ist die unfaire Behandlung von Frauen. Wir können uns bei der Bandbreite an Unterdrückungsmechanismen nicht auf nur einen Themenbereich konzentrieren, es hängt ja alles miteinander zusammen. Wenn eine von uns eine Idee hat, schlägt sie diese in der Gruppe vor und dann gucken wir gemeinsam, ob wir diese Idee umsetzen können. Was unsere Gruppe unter anderem besonders macht, ist, dass jede sich nach ihrem Ermessen einbringen kann.

Natürlich sollten wir auch über das »Attentat« auf Bundeskanzler Olaf Scholz sprechen. Es war eine der letzten aufsehenerregenden Aktionen von dir. Wie kam es dazu?

Es war der Tag der offenen Tür im Bundestag und wir wussten, dass Olaf Scholz dort sprechen wird – was für eine tolle Möglichkeit, unserem Bundeskanzler einmal ganz nah zu kommen.

Zu der Zeit begann gerade der Überfall auf die Ukraine seitens Russlands. Europa war schockiert und Deutschland handelte viel zu langsam – blockierte zwischenzeitlich sogar Sanktionen und war vom russischen Gas und Öl abhängig. Damit finanzierte Deutschland diesen zerstörerischen Angriffskrieg mit. Schwerfällig und viel zu langsam wurden Maßnahmen ergriffen. Es wurden immer wieder Dinge versprochen, die nicht eingehalten wurden. Es entstand sogar der Begriff »Scholzing«. (Gute Absichten zu kommunizieren, um dann jeden möglichen Grund zu finden, zu nutzen oder zu erfinden, um diese dann zu verzögern und/oder sie zu verhindern.) Wir waren mit dieser Art der Politik sehr unzufrieden und mussten ihm das persönlich mitteilen.

Vielen Dank für das Interview!

Titelbild: Unterstützungsaktion für Frauen in Afghanistan kurz nach der Machtergreifung der Taliban im September 2021. Foto: Colorfullpalness

  1. Als Postfeminismus werden Strömungen des Feminismus bezeichnet, die sich vom Fokus auf das »Subjekt Frau« abwenden und sich stattdessen auf die Subjektivierung beziehen. Aus ihrer Sicht gibt es so viele Identitäten, wie es Menschen gibt, was auch Geschlechtsidentitäten auflöst und daher manchmal als » antifeministisch« wahrgenommen wird.

  2. Als zweite Welle des Feminismus wird der Nachkriegsfeminismus zwischen den 1960er und Anfang der 1980er Jahre bezeichnet.

  3. Paragraf 218 StGB regelt, dass in Deutschland ein Schwangerschaftsabbruch verboten ist und bis zur zwölften Schwangerschaftswoche nur in Ausnahmen straffrei bleibt, etwa nach einer Pflichtberatung bei einer staatlich anerkannten Stelle.


  4. Femen

    Die feministische Gruppe Femen (Eigenschreibweise FEMEN) wurde 2008 in der ukrainischen Hauptstadt Kiew gegründet. Sie hat durch provokante Aktionen internationale Beachtung bekommen. Das Markenzeichen der Aktivist*innen sind Oben-ohne-Aktionen, bei denen sie ihre nackten Oberkörper mit Parolen bemalen und Blumenkränze im Haar tragen. Sie selbst nennen ihre Aktionsform »Sextremismus«. Im September 2012 gründeten Irina Khanova, Zana Ramadani, Hellen Langhorst und Klara Martens den deutschen Ableger der Bewegung.

    Kontakt: joinFemengermany@gmail.com

    Facebook: https://www.facebook.com/Femengermany/

    Instagram: https://www.instagram.com/Femen_germany/

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