Saatgut-Projekt will Gemüse-Vielfalt erhalten

Das nichtkommerzielle Gärtnerei-Kollektiv »saatje« sucht Unterstützer*innen – und lädt zu Führungen durch seinen Garten vor den Toren Rostocks ein.

Andreas Eberhardt, Rostock

Für die »Rote Murmel« (Wildtomate), den »Napolitaner« (Moschuskürbis) oder die »Frühe Paas Lintorfer« (Buschbohne) werden Freund*innen gesucht. »Wir wünschen uns Leute, denen es wichtig ist, Gemüse- und Kräutersorten zu erhalten«, erklärt Steffie Busch. Im Dorf Wilsen vor den Toren Rostocks hat die Agraringenieurin eine kleine bio-zertifizierte Saatgut-Gärtnerei aufgebaut. Gerade wandelt sie »saatje«, so der Projektname, zusammen mit zwei Mitstreiter*innen in einen gemeinnützigen Kollektivbetrieb um. Künftig ist dieser Teil des Alternativlandbau-Vereins »fruchtwechsel«.

Die Hoffnung der drei Beteiligten: eine Gemeinschaft von Unterstützer*innen, die das Projekt mitträgt. Robert Waltemath, Steffies Lebenspartner und Informatiker, der seit vielen Jahren in selbstorganisierten Projekten mitwirkt, kümmert sich um Organisatorisches. »Auch einmalige und kleine Beiträge helfen uns«, sagt er. Die Unterstützer*innen erhalten im Gegenzug Saatgut und Jungpflanzen, außerdem die Möglichkeit, an Seminaren und Führungen durch den »saatje«-Garten teilzunehmen. Es sei der gleiche Gedanke wie bei einer Solidarischen Landwirtschaft (Solawi), erklärt er, »nur eben für Saatgut«. (siehe dazu auch CONTRASTE Nr. 464, Mai 2023)

Warum Steffie, gärtnerischer Kopf des Projekts, seit Jahren für Saatgut brennt, kann sie schnell erklären: »Ich esse einfach gerne und bin schockiert, wie schlecht wir uns als Gesellschaft um unsere Nutzpflanzen kümmern.« Vor der Industrialisierung des Ackerbaus, erzählt sie, sei es selbstverständlich gewesen, dass alle, die Gemüse anbauen, davon auch Saatgut produzieren. Das Ergebnis dieser jahrtausendealten Kulturtechnik war eine riesige Vielfalt von Pflanzensorten – optimal angepasst an die Umwelt-, Wetter- und Bodenverhältnisse vor Ort.

Doch dieser Reichtum war einmal. Von den Gemüsesorten, die vor 100 Jahren existierten, gibt es gerade noch zehn Prozent, rechnet Steffie vor. Das in Bau- und Supermärkten erhältliche Saatgut hat die alteingesessenen Sorten verdrängt. Über Generationen vererbte Familien-Züchtungen verschwanden aus den Gärten. Stattdessen kamen neue, amtlich registrierte Sorten – vergleichsweise wenige, oft unfruchtbare Hybride, für deren Vertrieb Unternehmen Lizenzgebühren kassieren. Private Sorten wie die »Krögersche Stangenbohne« etwa, die die Schweriner Familie Kröger jahrzehntelang in Eigenregie züchtete, gelten als »verboten«. Ein Unding, ärgert sich Steffie: »Saatgut ist Gemeingut der Menschheit und nicht Eigentum von Konzernen.«

Die Samen-Gärtnerin erklärt: »Den Firmen, die heute vor allem für den erwerbsmäßigen Anbau Saatgut züchten, geht es um Geld, Effizienz, Erträge und Kalkulierbarkeit.« Auf der Strecke blieben dabei aber die Lagerfähigkeit von Möhren oder die Fähigkeit von Bohnenpflanzen, wiederholt zu blühen und die Ernte so über Wochen auszudehnen. »Unsere Sorten hingegen können das«, sagt Steffie und wüsste zig weitere Gründe, weshalb Nutzpflanzenvielfalt ein Gewinn ist. Ein Argument ist ihr besonders wichtig: die Anpassung an neue Verhältnisse – Stichwort Klimawandel. Dafür brauche es einen großen Genpool: »Nur wenn man viele Sorten an vielen Orten jährlich anbaut und ihnen erlaubt, sich zu verändern, besteht die Chance, dass sie resilient werden.«

Soweit die Theorie und der gesellschaftliche Wunsch des »saatje«-Trios. Die dritte im Bunde ist übrigens Lydia Bertram, Rostockerin wie Steffie und Robert, und ebenfalls studierte Agrarwissenschaftlerin. Dennoch wissen sie: Die Zeit zurückdrehen werden sie nicht. Nur wenige Gemüsefreund*innen wollen heutzutage ihr Saatgut noch selbst gewinnen – auch, weil es dabei zu viel zu beachten gibt. Während es bei Bohnen und Erbsen noch gut klappt, ist die Saatgutzucht bei Kohl überaus aufwändig und erfordert Fachkenntnis. »Um die nötige genetische Variabilität zu erhalten, braucht man rund 100 blühende Einzelpflanzen, die sich gegenseitig bestäuben«, erläutert Steffie. Um das zu stemmen, arbeitet »saatje« mit einer benachbarten Solawi zusammen. Im kommenden Herbst sollen dort die schönsten Kohlköpfe – geplant ist: roter Spitzkohl – ausgewählt werden, um im Folgejahr im Wilsener Garten für die Vermehrung zu dienen.

Auf der eigenen Webseite bietet »saatje« momentan 16 Sorten Biosaatgut an: Erbsen, Bohnen, Kürbisse, Physalis, Gurken, Gewürzfenchel sowie eine kleine Auswahl Tomaten. Auch die am Artikelanfang genannten Gemüse sind darunter. Geht es nach Steffie, dann ist das nur der Anfang. Das Sortiment soll weiter wachsen. »Im kommenden Jahr«, erklärt sie, »werden auch Sorten hinzukommen, deren Saatgutgewinnung zwei Jahre dauert.« Außerdem: Kräuter- und Blumensamen, nach denen sie bisweilen gefragt wird. Bisher sind die Tütchen für marktübliche vier Euro in Bio-, Hof- und Naturkostläden rund um Rostock sowie – bisher nur auf Anfrage – per Mail erhältlich. Auf längere Sicht, hofft Robert, werde man aber auch einen Online-Shop anbieten können.

Wie viel von dem gelingt, was die drei sich vorgenommen haben, wird von der zukünftigen Unterstützerschaft abhängen. Rund 40 Arbeitsstunden stecken sie im Schnitt pro Woche in »saatje« – bisher komplett unentgeltlich. So wichtig es ihnen ist, dass der Betrieb »keinem gehört« und im Kollektiv gleichberechtigt geführt wird, ist doch klar, so Robert: »Wir wollen raus aus dem Selbstausbeutungs-Modus.« In einem ersten Schritt soll deshalb eine halbe Gärtnerstelle geschaffen werden sowie eine Stelle für eine Person, die ein Freiwilliges Ökologisches Jahr im Bundesfreiwilligendienst leistet. Für beides wäre ein Beitragsaufkommen von 1.500 bis 2.000 Euro im Monat notwendig, schätzt Steffie.

Auch wenn die sonstigen laufenden Verbindlichkeiten – Pacht für die derzeit rund 700 Quadratmeter Ackerfläche, zugekauftes Erst-Saatgut, Anzuchterde, Behörden, Werkzeuge und Folientunnel gering sind, ist ihnen klar: »Wir werden unsere Arbeit und unsere Kosten niemals allein durch den Saatgutverkauf decken.« Trotzdem, betont Robert, sei der Wunsch nach einer Unterstützer*innen-Gemeinschaft für »saatje« mehr als eine betriebswirtschaftliche Notwendigkeit. »Saatgut gehört nun mal in die Hände von vielen.«

Link: saatje.de/support

Kontakt: post@saatje.de

Termine (mit Anmeldung per E-Mail):
20. August 2023: Vielfaltstag
7. Oktober 2023: Saatgutseminar


Titelbild: Saatguterzeugung beginnt mit der Anzucht von Jungpflanzen. Im Frühjahr kommen die meisten von ihnen ins Freiland. Foto: saatje

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