Zur Würdigung von Maria Mies

Immer wieder wird sie von jungen Frauengenerationen entdeckt: die Kölner Wissenschaftskritikerin und Aktivistin von Weltrang Maria Mies. Sie schaffte den Aufstieg von der Eifeler Bauerntochter zur Professorin – eine beispiellose Karriere. Die Soziologin entwickelte Grundlagen-Diskurse zur Frauenforschung und beschäftigte sich besonders mit den Arbeitsbedingungen der Frauen des Südens. Sie ist bis heute eine der bekanntesten Gegner*innen der Globalisierung. Am 15. Mai 2023 starb Maria Mies mit 92 Jahren – Anlass für eine Würdigung!

Irene Franken, Köln

Maria Mies wurde am 6. Februar 1931 in der Vulkaneifel geboren; sie war das siebte von zwölf Kindern. Das Mädchen war sehr wissbegierig und schaffte es als erstes ihres Dorfes, den Besuch einer Höheren Schule durchzusetzen. Sie wurde zunächst – auf Umwegen – Lehrerin für Englisch und Deutsch, dann wurde ihr das Umfeld zu eng und sie zog in die Welt. Die Anregungen aus ihrer agrarisch geprägten Kindheit nahm sie jedoch immer mit, unter anderem später in ihrer Theorie der Subsistenzperspektive oder in den Titel ihrer Autobiografie »Das Dorf und die Welt«.

Freiheitsliebe und Abenteuerlust führten die junge Lehrerin in den 1960er Jahren fünf Jahre lang an ein Goethe-Institut im indischen Pune (früher Poona). Dort unterrichtete sie junge Inder*innen in der deutschen Sprache – und machte erste soziologische Beobachtungen, wie sie in ihrer Autobiografie schildert: »Im Goethe-Institut in Pune traf ich nicht nur Männer, sondern auch Frauen, die Deutsch lernen wollten. Was bezweckten die Frauen damit, fragte ich mich. Eine indische Professorin für Anthropologie hat mir vorgeschlagen, eine Umfrage durchzuführen, was ich zuvor noch nie gemacht hatte. Das Ergebnis: Die meisten wollten die eigene Heirat hinausschieben, also im Klartext: nicht verheiratet werden. Das waren Mittelklassefrauen. Sie durften bis zum Bachelor studieren, dann mussten sie heiraten. Da ist mir erst einmal klargeworden, was Patriarchat bedeutet. Nicht über theoretische Studien, sondern über Praxis und Erfahrung. Und das ist meine Methode geblieben.«

Zurück in Deutschland ging sie an die Kölner Universität und forschte bei dem Soziologen René König zum Patriarchat in Indien und Deutschland. Ihre Dissertation von 1971 trug den Titel »Rollenkonflikte gebildeter indischer Frauen«.

Kritik der familiären Arbeitsteilung

Nicht zuletzt als Folge des Studiums in den bewegten Jahren 1968/69/70 wurde sie politische Aktivistin. Zunächst beteiligte sie sich an mehreren Kölner Nachtgebeten, einer progressiven Form des politisch aufklärenden Gottesdienstes, ins Leben gerufen von Dorothee Sölle. »Ich wollte diese patriarchalischen Strukturen in einem Politischen Nachtgebet darstellen, kritisieren und zu Veränderungen aufrufen«, erklärte Maria in ihrer Autobiografie. »Als Slogan für unser Flugblatt wählten wir einen von uns etwas abgeänderten Satz von Ernst Bloch: ›Die Frau liegt (immer noch) unten.‹« Schon damals hatte sie die Abwertung der Frauenarbeit im Blick: »Der Kern unserer Kritik galt der üblichen familiären Arbeitsteilung: Der Mann ist der ›Ernährer‹, der das Geld verdient. Die Arbeit der Hausfrau zählt nicht.«

Im Anschluss an den Abend gründeten sich in Köln VHS-Kurse zu der Thematik, die über Jahrzehnte fortgeführt wurden; sie wurden für unzählige Frauen zum Auslöser von Emanzipationsprozessen.

Von 1974 bis 1977 führte Maria im Rahmen eines Lehrauftrages an der Universität Frankfurt Seminare zur Geschichte der Internationalen Frauenbewegung durch. Danach übernahm sie einen Lehrauftrag an der Fachhochschule Köln für Sozialpädagogik und wandte sich zunehmend feministischen Inhalten zu. Sie befand, es müssten neue Wissensfelder und neue Formen der Vermittlung her. Erkannt – getan, sie richtete Frauenseminare an der FH ein, in denen es nicht nur um Theorie, sondern auch um Praxis ging: »Da war vor allem die Erfahrung der Gewalt: Um diese Zeit war von Erin Pizzey das erste Haus für geprügelte Frauen im Londoner Stadtteil Chiswick errichtet worden. Die Studentinnen beschlossen, auch in Köln ein Haus für geschlagene Frauen zu gründen.« So war Maria Mies eine der ›Hebammen‹ des ersten Hauses für geschlagene Frauen, das aus der autonomen Frauenbewegung heraus entstand (vorher gab es erst eines des Berliner Senats).

Parteilichkeit für Frauen

1978 veröffentlichte die Soziologin ihren vielleicht meist rezipierten Text »Postulate der Frauenforschung«, der im deutschsprachigen Raum direkt großes Aufsehen erregte: Die Verfasserin verlangte nicht nur, den »subjektiven Faktor« der Forschenden offen zu legen, sondern sie forderte Parteilichkeit für Frauen, was gegen das Dogma der (vermeintlichen) wissenschaftlichen Objektivität verstieß. Nicht alle Wissenschaftlerinnen folgten ihr.

Mies hatte früh begonnen, weltweit Kontakte zu knüpfen. 1979 begründete sie am Institute of Social Studies in Den Haag den Schwerpunkt »Women and Development«. Als Marx-Kritikerin beschrieb sie zum Beispiel 2003, dass der Kapitalismus das Patriarchat nicht aufgehoben habe, was Marx vorausgesagt habe. Mies betrachtete Hausarbeit als Basis des Kapitalismus, im Gegensatz zu Marx, der die Lohnarbeit als Basis ansah. Daher folgte sie teilweise Rosa Luxemburg in ihren ökonomischen Abhandlungen, erweiterte diese jedoch um Thesen zur Unterbewertung der Haus- bzw. Reproduktionsarbeit. Die sichtbare Lohnarbeit sei weiß, männlich und in den Ländern des Nordens durch Arbeitsverträge geregelt, so Mies. Nur diese käme in den Berechnungen es Bruttosozialprodukts vor. Darunter läge wie bei einem Eisberg der Hauptteil unsichtbarer Arbeit von weißen und schwarzen Frauen (auch in der Prostitution) und auch bei Männern in so genannten McJobs. Unsichtbar sei des Weiteren die Arbeit in der so genannten Subsistenzwirtschaft durch Bäuerinnen und Bauern, die ihre Landwirtschaft zum eigenen Erhalt betrieben (Kleinbauern) oder durch kleine Handwerker*innen, die für den lokalen Markt arbeiten, sodann durch Kolonialisierte. Ihre Forschungsschwerpunkte waren nun Landfrauen in der (wie es damals hieß) Ersten und Dritten Welt, Kapitalismus und Subsistenz, Gentechnik und immer wieder Alternativen zur globalisierten Wirtschaft.

Maria Mies nahm heutige Diskurse wie »Es gibt keinen Planet B« vorweg, forderte ein Zurückfahren des Konsums – heute wird diese Bewegung »Degrowth« genannt – und eine Wirtschaftsweise und Gesellschaftsform einzurichten, die das Wohlergehen aller zum Ziel hat und die ökologischen Lebensgrundlagen erhält: »Wir sind der Überzeugung, dass die gemeinsamen Werte einer Postwachstumsgesellschaft Achtsamkeit, Solidarität und Kooperation sein sollten. Die Menschheit muss sich als Teil des planetarischen Ökosystems begreifen.« Sie verstand Subsistenzwirtschaft nicht als Zurück ins Mittelalter, sondern als das Verfolgen eines anderen Ziels beim Wirtschaften: die Grenzen der Natur erkennen; Nahrungsproduktion vor Industrieproduktion; den Wachstumswahn beenden; Fülle und Vielfalt statt Monokultur; lokales Wirtschaften; Gemeingut- und Allmenden-Denken hochschätzen; die Verhinderung der Privatisierung von Wasser. 1996 wurde ihre Broschüre »Die Befreiung vom Konsum« in 2. Auflage veröffelicht.

Gegnerin der Globalisierung

Ab den 1980ern und damit sehr früh hat sie zur internationalen Vernetzung der globalisierungskritischen Bewegung beigetragen. Mies‘ Kritik richtete sich gegen die unzureichende demokratische Kontrolle internationaler Finanz- und Handelsinstitutionen wie der Welthandelsorganisation, des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Sie gründete in Deutschland das »Komitee Widerstand gegen das MAI« (Multilateral Agreement on Investment) mit, das die bundesdeutsche Öffentlichkeit erstmals über länderübergreifende privatwirtschaftliche, Investoren-freundliche Abkommen informierte, die die Herabsenkung aller Standards für Arbeitnehmer*innen und Umwelt beinhalteten und zu deren Verarmung bzw. Zerstörung führen werden. Deren Existenz wurde einer größeren Allgemeinheit jedoch erst durch den Kampf gegen TTIP (Transatlantisches Freihandels­­abkommen) bekannt. Maria Mies gebrauchte auch früh den Begriff des Guten Lebens.

1993 kam die Emeritierung – aber Maria Mies blieb noch lange in der feministischen und globalisierungskritischen Bewegung aktiv, zum Beispiel bei Attac Köln, feminist attac und anderen Gruppen. Sie selbst bezeichnete sich nicht als »Globalisierungskritikerin«, vielmehr als »Globalisierungsgegnerin«. Den Weg des »Gender-Mainstreaming« ging sie nicht mit: »Mit dem, was Männer heutzutage im kapitalistischen Patriarchat machen, will ich nicht gleichgestellt werden. Die Menschen sollten nicht sein, wie die patriarchalen Männer heute sind. Egal, in welchem Land. Wir haben in Deutschland eine Bundeskanzlerin und eine Verteidigungsministerin. Dadurch wirkt das Land vermeintlich fortschrittlich. Viele Feministinnen denken so. Aber die Politik, die diese beiden betreiben, ist doch dieselbe, sie ist patriarchalisch, sie ist kapitalistisch, sie ist kolonialistisch – wie eh und je. Was geändert werden müsste, ist dieses ganze Bild, die ganze Vorstellung und die ganze Weltanschauung, die den idealen Menschen im Mann sieht.«

Irene Franken ist Vorstandsmitglied im Kölner Frauengeschichtsverein.

Titelbild: Feministin und Globalisierungsgegnerin: Die Soziologin Maria Mies starb am 15. Mai 2023.
Foto: Malin Kundi/Kölner Frauengeschichtsverein

Zum Weiterlesen:
Irene Franken über das Politische Nachtgebet: https://kurzelinks.de/a8j8
Maria Mies liest aus ihrer Autobiografie über das Politische Nachtgebet: https://kurzelinks.de/g18m
Sendung bei WDR 5 über Maria Mies: https://kurzelinks.de/3whi

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