Jetzt können wir Hoffnung atmen

Eine zapatistische Delegation hat am 3. Mai eine Reise nach Europa begonnen, um sich mit den dortigen Protest- und Basisbewegungen zu verbünden. Der Soziologe und CONTRASTE-Autor John Holloway verfolgt die zapatistische Bewegung von Anfang an und ordnet die Reise für uns ein.

John Holloway, Mexiko

»Im Namen der zapatistischen Frauen, Kinder, Männer, alten Menschen und, natürlich, der Anderen1 erkläre ich, dass dieses Land, das dessen Ureinwohner ›Europa‹ nennen, von jetzt an Slumil K´ajxemk’op heißt, was ›Aufständisches Land‹ oder ›Land, das nicht aufgibt, das nicht ohnmächtig wird‹ bedeutet. Und als solches wird es solange unter den Seinen und Fremden bekannt sein, solange es jemanden gibt, der nicht aufgibt, der sich nicht verkauft und der nicht aufgibt.«

Diese Worte werden, so SupGaleano, von Marijosé gesprochen, sobald sie*er2 nach der Überquerung des Atlantiks auf der Montaña, dem Schiff, das Mexiko am 3. Mai verlassen hat und irgendwann im Juni die spanische Küste erreichen wird, europäischen Boden betritt. Marijosé ist 1 des aus sieben Zapatist*innen bestehenden Geschwaders 421, das auf dem Schiff segelt – 4 Frauen, 2 Männer, 1 Andere, um die Reise für das Leben zu beginnen, eine Fahrt, zu der eine andere Gruppe Zapatist*innen stoßen wird, die per Flugzeug anreisen und die sie in ungefähr 30 europäische Länder führen wird. Dies ist die erste von mehreren Reisen, mit denen die Zapatist*innen beabsichtigen, sich mit anderen Kämpfen für das Leben auf allen Kontinenten dieses Planeten zu verbinden.

Aufständische Hand in Hand

Marijosés Worte sind eine Kombination aus Witz, Einfachheit und theoretischem Tiefgang, die wir mit den Zapatist*innen verbinden, seit sie am 1. Januar 1994 ihren Aufstand begannen. Um für das Leben zu kämpfen, das ganz offensichtlich in Gefahr ist, stellen sie die Welt auf den Kopf. Sie segeln in die entgegengesetzte Richtung, aus der Kolumbus und die Eroberer kamen, um eine Welt der Rebellen zu entdecken. Sie treten nicht an, Eroberer zu finden und von ihnen Entschuldigungen zu verlangen, sondern Aufständische zu finden und sich mit ihnen im gemeinsamen Kampf zusammenzuschließen. Kein Gerede von Imperialismus oder Kolonialismus, nichts aus der seit langem etablierten Tradition der Linken, gesellschaftlichen Antagonismen territoriale Definitionen überzustülpen, sondern etwas viel Einfacheres, sehr viel Direkteres: die Aufständischen einer Geographie gehen Hand in Hand mit den Aufständischen einer anderen. Denn dies ist die einzige Weise, in der wir eine Zukunft erschaffen können.

Also eine Einladung und weniger eine Show der Solidarität mit dem heroischen Volk von Chiapas (denn der Begriff der Solidarität erschafft sofort ein »sie« in dritter Person), sondern ein Erkennen-und-Erschaffen von Slumil K´ajxemk’op, das vielerorts als Europa bekannte Aufständische Land, ein Land bevölkert von Menschen, die in vielen verschiedenen Geographien geboren wurden. Ein Land, beherrscht vom Geld, ein Land, das Teil des Imperiums des Geldes ist, dieselbe üble Macht, die auf allen Kontinenten herrscht und uns in einen an Geschwindigkeit gewinnenden Taifun der Zerstörung reißt. Eine üble Macht, die herrscht, die aber nicht vollständig herrscht, denn der europäische Kontinent, wie alle Kontinente, ist ein Aufständisches Land, wo die Menschen nicht aufgeben, sich nicht verkaufen, sich nicht unterwerfen.

Der Aufstand nimmt viele verschiedene Formen an, denn Geld ist eine Hydra mit vielen Köpfen, jeder mit seinem eigenen Gesicht des Terrors. Diese erzeugen viel Schmerz, in der einen oder anderen Form alles unser Schmerz, denn unter den verschiedenen Sachen, die uns in unseren Unterschieden einen, sind die ersten beiden: »dass wir die Schmerzen der Welt zu unseren machen: die Gewalt gegen Frauen; die Verfolgung von und Abscheu gegenüber jenen, die in ihrer Gefühls-, emotionalen und sexuellen Identität anders sind; die Vernichtung der Kindheit; der Genozid an den indigenen Völkern; Rassismus, Militarismus; Ausbeutung; Enteignung; die Zerstörung der Natur«. Und »das Verständnis, dass es ein System ist, das für diese Schmerzen verantwortlich ist. Der Scharfrichter ist ein ausbeuterisches, patriarchales, pyramidales, rassistisches, diebisches, kriminelles System: Kapitalismus«. Das Aufständische Land ist ein Land vieler Kämpfe gegen die vielfältigen Gesichter des Monsters.

Lehren und Lernen

Die Reise der Zapatist*innen ist ein Ausstrecken, nicht um die Hand zu halten, nicht um zu führen, sondern um zu teilen. Ein Händehalten, ein wechselseitiger Fluss von Energien, vielleicht ein Funke. Ein Austausch bestimmter Erfahrungen des gemeinsamen Kampfes, um die Hydra zu töten, ein Lernen, das ein Lehren ist, ein Lehren, das ein Lernen ist. Nicht nur ein improvisierter Austausch, sondern eine Vertiefung der Austausche, die seit vielen Jahren existiert haben und die von vielen Menschen sehr sorgfältig vorbereitet wurden, seit die Zapatist*innen ihren Plan im letzten Oktober zum ersten Mal angekündigt haben.

Und es wird, es muss ein Ausstrecken der Hände sein, um ihre zu halten. Von allen Individuen und Gruppen, die wie ich, sich seit ihrem ersten Erscheinen über die Jahre in sie verliebt haben. Aber es wird und muss mehr als das sein. Es ist zu hoffen, dass die verrückte Reise mehr Menschen, weit jenseits der Welt der Aktivist*innen, berühren wird als nur die »üblichen Verdächtigen«.

Wir kriegen keine Luft

Aus offensichtlichen Gründen hat es in Europa oder anderswo im letzten Jahre nur wenige Aufschwünge des politischen Protestes gegeben. Aber vielleicht gibt es ein riesiges Gefühl des Erstickens, der aufgestauten Frustration. Wir kriegen keine Luft. Wahrscheinlich gibt es ein wachsendes Gefühl, dass das System zusammenbricht, dass der Kapitalismus nicht funktioniert. Es mag keinen deutlichen politischen Ausdruck, oder irgendeinen Ausdruck finden, den wir auf irgendeine Weise als »unseren« erkennen würden, und gegenwärtig dreht es sich für die meisten Menschen vor allem um die Rückkehr zu irgendeiner Form der Normalität, wie schädlich auch immer diese Normalität sein mag. Und dennoch gibt es die Wahrnehmung, dass der Kapitalismus ein gescheitertes System ist. Aufgrund seiner Zerstörung der natürlichen Biodiversität hat es eine Pandemie erschaffen, die Millionen Menschen getötet und die Lebensbedingungen für praktisch die ganze Weltbevölkerung verändert hat. Eine Pandemie auf die wahrscheinlich andere folgen werden. Sein unerbittliches Streben nach Profit bringt einen Klimawandel hervor, der bereits jetzt zu enormen Konsequenzen für das menschliche Leben und das Leben so vieler anderer Spezies führt. Viele oder gar die meisten Eltern gehen jetzt davon aus, dass ihre Kinder schlechtere Lebensbedingungen haben werden, als sie selbst hatten und tatsächlich sind es die Jungen, die die schlimmsten Folgen des Versagens des Systems erleiden.

Es gibt eine ganze Welt der Wahrnehmung, dass der Kapitalismus gescheitert ist, eine Welt von Menschen, die den »Glauben an das System verlieren«, eine Welt des Erstickens und der Frustration. Ein Vulkan, der auf seinen Ausbruch wartet? Wer weiß? Als jemand, der unter einem Vulkan lebt3, weiß ich, dass es schwierig ist, den Zeitpunkt oder das Ausmaß eines Ausbruchs vorherzusagen. Aber Kolumbien hat während der letzten Tage gezeigt, welche enormen Kräfte aufgestaute Spannungen entfalten können4.

Keine Rettung aus der Mitte

In all diesem liegt eine Dringlichkeit. Als die Zapatist*innen am Neujahrstag 1994 ihren Aufstand begannen, war die Antwort eine riesige Welle der Unterstützung für sie in Mexiko, massive Demonstrationen, die die Regierung zwangen, die militärische Attacke auf ihre Bewegung einzustellen. Eine riesige Welle an Sympathie, die jedoch nicht ausreichte, den Staat zu Fall zu bringen und die mexikanische Gesellschaft zu verändern. Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass der gesellschaftliche Zerfall, der seitdem mit der Tötung Hunderttausender, vor allem junger, Menschen und dem »Verschwinden« Hunderttausender, und den täglich wachsenden Zahlen an Femiziden, eingesetzt hat, durch eine stärkere Antwort hätte aufgehalten werden können. In Europa und in der ganzen Welt wird die Decke der Zivilisation zunehmend als dünn wahrgenommen. »Auseinander brechen die Dinge; die Mitte hält nicht mehr«, Yeats’ berühmte Zeile aus seinem Gedicht »Die zweite Ankunft« wird zunehmend zitiert. Aber die Zivilisation kann nicht aus der Mitte heraus gerettet werden. Die einzige Weise, eine »zivilisierte«, sozial akzeptable Gesellschaft zu erschaffen, besteht in der Abschaffung des Kapitalismus und der Erschaffung anderer Formen des Lebens, in denen die gegenseitige Anerkennung im Zentrum steht. Diese Aufgabe ist dringlich, die Fenster der Realität schließen sich.

Surreal? Bestimmt. Der Surrealismus der zapatistischen Reise ist kein Ornament, er steht im Zentrum ihrer Politik. Immer wieder haben die Zapatist*innen uns mit ihren Initiativen überrascht, aber dies ist wahrscheinlich die wundersamste überhaupt. Inmitten der Pandemie (und die Zapatist*innen waren in der Einhaltung ihrer vorbeugenden Maßnahmen sehr rigoros, und haben sie begonnen, noch bevor der mexikanische oder die meisten anderen Staaten überhaupt etwas unternommen hatten), und ohne irgendeinen Vertrag mit Netflix zu unterzeichnen, haben sie das erstaunlichste Theaterstück erschaffen, in dem sie den Atlantik zu ihrer Bühne machen und sich dann auf ungefähr dreißig unterschiedliche Geographien im neu benannten (sicherlich nicht getauften) Kontinent Slumil K´ajxemk’op ausbreiten. Damit soll das revolutionäre Denken an einen Ort gebracht werden, den es niemals zuvor betreten hat. Es soll den Kampf für das Leben und gegen den Kapitalismus (denn der Kampf für das Leben muss ein Kampf gegen den Kapitalismus sein) in eine neuerlich surreale Dimension führen. Der Surrealismus ist von entscheidender Bedeutung, denn er bricht die Logik des Kapitals und seines Staates, der unsere Träume von etwas Besserem in die Reproduktion des ewig gleichen Systems des Todes zieht und zieht und zieht.

Lest sie, lest sie, lest sie! Lest, was sie sagen. Lest die sechs Teile des Textes, der diese verrückte Reise angekündigt hat, in der Reihenfolge in der sie veröffentlicht wurden, vom sechsten zum ersten (aber natürlich). Lest, was sie über ihre Reise sagen, guckt euch ihre Videos und Fotos an. Und begleitet sie vor allem auf ihrer lächerlichen Reise. Begleitet sie und lasst sie euch begleiten. Teilt Eure Kämpfe und eure surrealen-zu-realen Vulkane. Und vielleicht wird uns allen dies helfen, das zu atmen: Hoffnung.

Für ihre Kommentare bedankt sich der Autor bei Edith González, Panagiotis Doulos, Néstor López, Marios Panierakis, Azize Aslan, Eloína Peláez und Lars Stubbe.

Übersetzung aus dem Englischen: Lars Stubbe

Buchtipp: John Holloway – Kapitalismus aufbrechen

Die Kommuniqués der Zapatistas in deutscher Sprache und weitere Infos zu Stationen in Deutschland: https://www.ya-basta-netz.org

Kommentar von Inés Durán Matute, »Ein Kampf für das Leben, für alle. Indigene Völker navigieren und vereinen die Welt«. Maldekstra, Rosa Luxemburg Stiftung, Berlin, März 2021, S. 18, Link: https://bit.ly/3bexzcX

Titelbild: Mit ihrer Reise wollen die Zapatistas vor allem eins: Hoffnung und Rebellion säen. Illustration: Hannah, Münster


1. Das spanische »otroa« meint hier die Angehörigen der in sich heterogenen LSBTIQ*-Community; Anm.d.Ü.

2. Der Autor verwendet das nicht-binäre Personalpronomen s/he. Im deutschen gibt es bislang keine geeinte Schreibweise für nicht-binäre Personalpronomen; Anm.d.Ü.

3. John Holloway lebt in San Andrés Cholula, nahe Puebla, im Zentrum Mexikos. In unmittelbarer Nähe zu Cholula liegen die aktiven Vulkane Iztaccíhuatl und Popocatépetl; Anm.d.Ü.

4. Gemeint sind die Aufstände, Demonstrationen und Streiks in Kolumbien im April/Mai 2021, nachdem Präsident Iván Duque eine Steuerreform angekündigt hatte, um die Auflagen internationaler Kreditgeber zu erfüllen und die Kosten der Covid-Pandemie zu zahlen. Nach heftigen Protesten und Angriffen durch Staatskräfte, die zu bislang über 20 Toten und vielen 100 Verletzten geführt haben, musste die Regierung die »Reform« zurückziehen; Anm.d.Ü.

Das könnte für dich auch interessant sein.