Von der emanzipatorischen Vision zur Kontroll-Dystopie

Als Twitter Donald Trumps Account sperrte, hielten sich Kritik und Schadenfreude noch die Waage. Als während der Coronakrise Accounts von Menschen, die sich kritisch zu den Regierungsmaßnahmen äußerten, von Youtube gelöscht wurden, rüttelte das viele Menschen auf, man sprach von Zensur.

Brigitte Kratzwald, Redaktion Graz

Vor diesem Hintergrund entstand in der CONTRASTE-Redaktion das Bedürfnis, sich mit diesen und anderen Problemzonen der Digitalisierung intensiver auseinanderzusetzen und zu schauen, ob und wie selbstorganisierte Initiativen und Organisationen davon betroffen sind. Wir starten mit diesem Problemaufriss eine lose Artikelreihe zum Thema Netzpolitik.

Der »Erfinder« des Internet ist der britische Physiker und Informatiker Tim Burners Lee. Er entwickelte die Programmiersprache HTML ebenso wie das Transferprotokoll HTTP und legte damit den Grundstein des World Wide Web. Er ließ sich seine Erfindungen nicht patentieren, sondern stellte sie frei zur Verfügung, entsprechend seiner Vorstellung, wie eine Gesellschaft funktionieren sollte: »flache Hierarchien, harmonische Kooperation, Toleranz und Offenheit für Vielfalt, Vernunftgebrauch sowie Zuversicht in die Mitmenschen.« Diese Zuversicht hat sich als trügerisch erwiesen: Das Internet hat neben emanzipatorischen Aspekten auch viele problematische Entwicklungen hervorgebracht, für die die Menschheit noch nach Lösungen sucht.

Vom Urheberrecht zu Hate Speech

Sobald eine große Anzahl von Menschen Zugang zum World Wide Web hatte und es entsprechend der Idee des Erfinders zum Austausch von Ideen und Inhalten nutzte, flammten die Auseinandersetzungen um Urheberrechte auf und gleichzeitig die Diskussionen,wovon die Menschen leben sollten, die ihr Wissen, ihre Kunst, ihre Baupläne frei zur Verfügung stellten. Seither kamen ständig neue Probleme und offene Fragen dazu: Datenschutz und Privatsphäre, Überwachung, Meinungsfreiheit und in den letzten Jahren »Hate Speech« und »Fake News«. Es zeigte sich die Notwendigkeit, dass Regierungen in diesen anfangs so freien Raum rechtlich eingreifen, die Gesetzgebung hinkt jedoch der technischen Realität immer hinterher.

Die Notwendigkeit der Formulierung »digitaler Rechte« steht im Raum, diese sind jedoch schwer zu fassen. Verschiedene, bereits existierende Grundrechte scheinen im digitalen Raum mehr noch als in der Offline-Sphäre gegeneinander zu stehen. Betroffen sind Urheberrechte, das Recht auf Privatsphäre und Datenschutz, das Recht auf Meinungsfreiheit und Informationsfreiheit. Auf der anderen Seite stehen die legitimen Ziele, Hass, Diskriminierungen und Bedrohungen verschiedenster Art aufzuspüren, Internetkriminalität zu verhindern oder zu bestrafen. Der gleichzeitige Schutz der Privatsphäre der Internetnutzer*innen scheint der Quadratur des Kreises zu gleichen.

Die totale Kontrolle?

Seit viele Menschen digitale Geräte zur Kommunikation nutzen, steigt die Begehrlichkeit der Regierungen nach Daten ständig an. Es begann vor Jahren mit der Vorratsdatenspeicherung: Sie wurde bereits mehrmals vom EuGH gekippt, jedoch immer wieder versucht. Aber auch andere Daten verlocken zum Sammeln, etwa Fluggastdaten, Bewegungsdaten von Smartphones oder, seit der Coronakrise, Gesundheitsdaten. Für die »Contact-Tracing-App« (eine App, die Kontakte nachverfolgt, Anm. d. R.) des österreichischen Roten Kreuzes gab die Organisation »epicenter.works« (siehe Kasten) Entwarnung, diese sei was den Datenschutz betrifft unbedenklich. Anders sieht das mit dem geplanten elektronischen Impfpass aus – hier warnen Datenschützer*innen vor einer zu umfangreichen Verknüpfung und zu leichtem Zugriff auf persönliche Daten.

Dazu wird in den letzten Jahren immer öfter künstliche Intelligenz zur Gesichtserkennung genutzt. Diese Technologie ist noch kaum geregelt und niemand weiß genau, wo sie zur Anwendung kommt. Wenn in all den Überwachungskameras in U-Bahnstationen, auf öffentlichen Plätzen oder in Einkaufszentren oder Banken Gesichtserkennung eingesetzt wird und alle diese Daten zusammengeführt werden, ist es bis zur Dystopie der totalen Überwachung nicht mehr weit.

Digitale Selbstbestimmung

Und nicht nur Regierungen und Polizei, sondern auch eine Vielzahl von Firmen wollen unsere Daten, um gezielter werben zu können. Daten sind das neue Gold, und das Ziel ist der »gläserne Mensch« – China macht es vor. Dagegen halten Kritiker*innen mit der Forderung nach Stärkung der Privatsphäre im Internet und dem Recht auf digitale Selbstbestimmung. Ein erster Schritt ist die europäische Datenschutzgrundverordnung, die Umsetzung gestaltet sich jedoch mühsam – wer liest schon seitenlange Geschäftsbedingungen?

Der österreichische Student Max Schrems wurde vor einigen Jahren damit bekannt, dass er sich mit Facebook angelegt hatte, weil aus seiner Sicht der Konzern mit seiner Datennutzung gegen diese Verordnung verstößt. Inzwischen hat Schrems die europäische Datenschutzorganisation NOYB (None of Your Business) gegründet, die sich als Verbraucherschutzorganisation versteht.

Wenn eine private Plattform wie Youtube Konten sperrt, ist das dann Zensur? Nein, sagen die einen, der Vorwurf der Zensur könne sich nur gegen den Staat richten. Da aber die Regierungen den Plattformen den gesetzlichen Rahmen für die Löschung von Beiträgen vorgeben, stellt der amerikanische Jurist ack Balkin fest: »Meinungsfreiheit ist ein Dreieck«, und zwar zwischen Individuum, Staat und Internetanbieter. Es wird von Verfassungsjuristen als Problem gesehen, dass der Staat private Internetfirmen mit der Rechtsdurchsetzung betraut. Selbst das Dreieck sei noch zu vereinfachend, meint Julia Reda im Verfassungsblog, bei der Vielzahl an Beteiligten und Interessen. »Bereits in ordentlichen Gerichtsverfahren ist es nicht immer leicht, alle diese Ansprüche angemessen zu würdigen (…). Immerhin sind die Gerichte aber verpflichtet, die Grundrechte aller Betroffenen in ihren Entscheidungen zu berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen.« Die Menschen, die etwa im Löschzentrum von Facebook sitzen und 240 Posts pro Tag darauf überprüfen müssen, ob sie den Nutzungsbedingungen entsprechen, können das nicht leisten.

Die Fragen, um die es hier geht, sind letztendlich »Wer entscheidet, was wahr ist?« und: »Wo sind die Grenzen der Meinungsfreiheit?« Die Antwort auf diese Fragen sollte eine Gesellschaft nicht privaten Unternehmen überlassen und schon gar nicht Algorithmen, wie es immer noch häufig passiert. Die Frage nach den Grenzen von Meinungsfreiheit jenseits strafrechtlicher Aspekte muss unbeantwortet bleiben und letztlich immer wieder auf gesellschaftlicher Ebene neu ausgehandelt werden. Sie der Etikette sozialer Internetplattformen zu überlassen, ist keine Lösung.

Einmischung tut not

Liest man sich durch die diversen Foren und Kommentare, wird schnell klar: Viele Akteure haben Interesse an Daten und an Überwachung. Regierungen befinden sich in einer zwiespältigen Situation – einerseits haben sie Interesse an der Kontrolle der Bevölkerung, andererseits sollen sie Gesetze zu deren Schutz erlassen. Lösungen, die allen Ansprüchen genügen, sind nicht in Sicht, auch wenn es Vorschläge gibt. Es braucht eine Gegenmacht der Zivilgesellschaft. Wegen der komplexen technischen und juristischen Gemengelage ist es für den Normalverbraucher schwierig bis unmöglich, sich einzumischen – aber die Zeit drängt. Gerade kleine, selbstorganisierte und eventuell noch staatskritische Initiativen bewegen sich mitten in diesem unübersichtlichen Feld. Sie können von horrenden Strafen wegen Urheberrechtsverletzungen ebenso betroffen sein wie von Plattformsperren, weil sie angeblich gegen die Richtlinien verstoßen haben. Fälle von illegaler Überwachung unbequemer Personen gibt es schon jetzt immer wieder. All das ist umso beunruhigender, weil Polizei und Gerichte häufig auf dem rechten Auge blind sind und daher eher linke, antifaschistische Gruppen in den Blick nehmen. Sich gegen all das zu wehren, kann schwierig und teuer werden.

Da ist es hilfreich, dass es Organisationen gibt, die sich genau mit diesen Fragen beschäftigen, Regierungen ebenso auf die Finger schauen wie Konzernen, Lobbying für benutzer*innenfreundliche Regelungen betreiben und auch aktiv Vorschläge machen. Eine Kampagne für neue Grundrechte in Europa fordert unter anderem das Recht auf digitale Selbstbestimmung und transparente Regeln für künstliche Intelligenz. Damit diese Organisationen unabhängig arbeiten können, sind sie auf Spenden angewiesen. Vier davon stellen wir im Kasten kurz vor.

Titelbild: Pexels


netzpolitik.org

ist eine Plattform für digitale Freiheitsrechte. Beschäftigt sich mit Mitteln des Journalismus mit wichtigen Fragestellungen rund um Internet, Gesellschaft und Politik und zeigt Wege auf, wie man sich auch selbst mit Hilfe des Netzes für digitale Freiheiten und Offenheit engagieren kann.

epicenter.works

Technik verändert unsere Gesellschaft. Bestehende Machtgefüge und Lebensrealitäten werden neu geordnet. epicenter.works versucht, inmitten dieser Veränderung auf dem Boden der Menschenrechte gangbare Wege zu finden. Wir verstehen uns als Interessensvertretung für Grund- und Freiheitsrechte und setzen uns für eine starke Stimme der Zivilgesellschaft und einen aufgeklärten, sorgsamen Umgang mit den Chancen und Risiken der Technik ein.

noyb.eu

Führt Datenschutz-Aktivisten, Hacker und Legal-Tech-Initiativen und zu einer stabilen, europäischen Datenschutz-Plattform zusammen, mit deren Hilfe sie alle Möglichkeiten zur Rechtsdurchsetzung in der neuen EU-Datenschutz-Grundverordnung (»DSGVO«) im Interesse von Nutzer*innen nutzt.

Kampagne für neue Grundrechte in Europa

Die Politik scheint mit sechs der größten Herausforderungen unserer Zeit nicht mehr zurecht zu kommen: Umweltzerstörung, Digitalisierung, Macht der Algorithmen, systematische Lügen in der Politik, ungehemmte Globalisierung und Bedrohungen für den Rechtsstaat. Darum fordern wir sechs neue Grundrechte.

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