Normalismus

Neulich schickte mir jemand zur Unterstützung seiner vom Mainstream abweichenden Meinung die öffentliche Äußerung eines Richters. EINES Richters. Ich recherchierte im Internet: In Deutschland gibt es zurzeit ca. 20.000 aktive Richter. Wenn jemand also zwei davon findet, die die eigene Meinung unterstützen, dann kommen auf jeden von ihnen noch 10.000 andere, die wahrscheinlich anderer Meinung sind oder sich nicht äußern.

Unsere Kolumne: Blick vom Maulwurfshügel – Illustration: Eva Sempere

Normalisten wundert das nicht: Nachdem der Mathematiker Gauß Anfang des 19. Jahrhunderts mit seiner Glockenkurve die Normalverteilung populär machte, sind Abweichungen links und rechts normal. Sie werden statistisch als Ausreißer neutralisiert. Wer sich auf einzelne Meinungsäußerungen beziehen möchte, tut gut daran, sich auf die unglaubliche Wucht der Normalität und Durchschnittlichkeit des Restes der Welt zu besinnen.

Schon 1996 veröffentlichte Jürgen Link einen großen »Versuch über den Normalismus«. Normalismus ist nicht mit Normativität zu verwechseln. Normen gibt und gab es in allen Gesellschaftsformationen – wahrscheinlich viel strenger als heute; aber Normalität als statistische Häufigkeit und Referenzgröße für politische Entscheidungen und gesellschaftliche Konzepte erst in der Neuzeit.

In der Ausnahme-Situation von Corona hat Sehnsucht nach Normalität gerade Hochkonjunktur. Für viele geht es darum, so schnell wie möglich zum alten Zustand zurückzukehren – also so zu leben, wie es vor der Pandemie der Fall war. Andere gehen davon aus, dass die alte Normalität niemals zurückkehren wird, sondern dass die restriktiven Maßnahmen so viel Erschütterung ausgelöst haben, dass eine neue Normalität erforderlich wird. Eine Normaltemperatur lässt sich thermostatisch regeln. Normalverdiener*innen sind solche, die das bekommen, was alle anderen mit derselben Qualifikation auch verdienen. Normalität ist also keine qualitative Aussage. Und der Slogan »Zurück zur Normalität!« ist eigentlich der Tiefpunkt der Fantasielosigkeit und politischen Kapitulation.

Viele »Querdenker« befürchten eine »neue Weltordnung« im negativen Sinn – ich finde, dass wir diese mit dem Kapitalismus schon haben und wünsche mir eine bessere. Aber leider ist eine grundlegende Systemkritik für das normale Empfinden anscheinend unüberwindlich negativ konnotiert.

Gerhard Schröder soll als Kanzler gesagt haben: »Wer Utopien hat, soll zum Psychiater gehen!« Das heißt: Der Utopist fällt aus der psychischen Normalität – er leidet unter einer Störung.

Auf technischem Gebiet werden Kontinuitätsbrüche jederzeit erwartet im Vertrauen auf die Kreativität und Aktivität der Menschen. Aber was können wir für eine neue gesellschaftliche Normalität tun, ohne uns von der suggestiven Übermacht der Normalitätsglocke und von statistischen Durchschnittszahlen lähmen zu lassen?

Bleibt wohl nur die mühsame intellektuelle Auseinandersetzung, der Versuch, die Normalitätskurve durch inhaltliche Argumentation zu verschieben. Dieses Projekt kann sich nur auf eine qualifizierte Gesellschaftsanalyse und Kapitalismus-Kritik stützen und muss Zukunftsmodelle anbieten, die Lust darauf machen.

Uli Frank

Lest dazu auch die folgende Kolumne: »Brücken bauen« von Peter Streiff.

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