»Ich kriege keine Luft«

Dies ist der Vortragstext einer Rede, die vor Student*innen der an der Universität von Kalifornien in Santa Cruz gegründeten »Strike University« in virtueller Form am 16. Juni 2020 gehalten werden sollte, die dann aber vertagt werden musste. Der Autor dankt Edith González und Panagiotis Doulos für ihre Unterstützung. Aus dem Englischen übersetzt hat Lars Stubbe.

John Holloway, Mexiko

Zorn und Hoffnung: Der Ausbruch der gewaltigen Energie, den wir in den letzten Wochen miterlebt haben, dieser riesige Protest in den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt gegen den brutalen Mord an George Floyd, muss unser Ausgangspunkt sein. Gegen den in der US-Gesellschaft und der Weltgesellschaft so tief verwurzelten Rassismus ein massives NEIN.

»Ich kriege keine Luft«. Das waren die grauenvollen letzten Worte von George Floyd. Wahrscheinlich auch die letzten Worte vieler der Covid-19-Opfer der letzten Monate. Mehr noch: Es waren sicher auch millionenfach wiederholte Worte der Menschen, die auf der ganzen Welt im Shutdown saßen und sich danach sehnten, rauszukommen. Worte, die uns in den kommenden Jahren begleiten werden, während die Frustration wächst: die Frustration, in Jobs gefangen zu sein, die wir nicht wollen, oder in Erwerbslosigkeit oder in Armut, oder, am schlimmsten von allem, in der Verflüchtigung unserer Träume, eingeschlossen in der Welt, das heißt, die Welt des Unrechts, der Unterdrückung, des Sexismus, des Rassismus, diese Welt der Realität, deren Veränderung scheinbar unmöglich ist. Die Macht der Worte, »Ich kriege keine Luft«, liegt darin, dass all unser Zorn, all unsere Frustration in sie hineinfließt, gegen eine Polizei, die George Floyd keine Luft ließ, gegen eine Welt, die uns keine Luft lässt. All unser Zorn fließt darein und all unser Zorn speist sich auch daraus, von der Polizeibrutalität bis zu Trumps Verachtung für die Menschheit, zu Johnson, zu López Obrador, zur Gewalt aller Staaten, zur Naturzerstörung, die die Pandemie hervorgebracht hat, zum System, das in den kommenden Jahren Millionen und Abermillionen Menschen noch mehr Elend zufügen wird.

Der Kapitalismus tötet uns

So viele Diskussionen in den vergangenen Monaten. So viele Voraussagen, dass in einer hochgradig kontrollierten Welt keine Möglichkeit für Protest bestünde. Und jetzt dieser Ausbruch an Zorn, der weiterhin überfließen kann, der weiterhin überfließen muss. Er muss weiterhin überfließen, denn wir haben eine furchterregende Warnung erhalten. Das Coronavirus warnt sehr deutlich, dass wir uns wahrscheinlich auf dem Pfad des Aussterbens befinden, wenn wir dieselbe Form gesellschaftlicher Organisation, die wir jetzt haben, fortführen, wenn wir weiterhin eine Gesellschaft aufrechterhalten, in der die bestimmende Kraft die Suche nach dem Profit ist. In dieser Situation muss unser Zorn von einem Zorn zum anderen kaskadieren, jeder Zorn muss Beachtung finden, jeder Zorn sich dem »es reicht nicht aus« hinzufügen und auf anderen Zorn überfließen, bis wir zu der einfachen Aussage kommen: »Wir kriegen keine Luft, der Kapitalismus tötet uns«.

Die Pandemie und die Wirtschaftskrise werden uns als Pech verkauft. Was für ein Pech, dass dieses Virus entstanden ist, das leicht Millionen Menschen töten könnte, wenn wir nicht die richtigen Vorsichtsmaßnahmen ergreifen! Was für ein Pech, dass die durch das Virus verursachte Unterbrechung eine wirtschaftliche Katastrophe verursacht und es Millionen Erwerbslose, Millionen Arme, Millionen Hungernde geben wird! Was für ein Pech, dass du wirklich nicht das Leben genießen wirst, das deine Eltern genossen haben, wenn du jung bist!

Keine Frage von Pech

Aber natürlich ist dies kein Pech. Das Virus ist nicht aus dem Nichts gekommen. Es ist aus der Zerstörung des Verhältnisses zwischen Menschen und anderen Lebensformen entstanden und diese Zerstörung ist eine gesellschaftliche Zerstörung. Die Industrialisierung der Landwirtschaft, die weltweite massive Landvertreibung von Bauern, die Megaprojekte, die die Landschaft an so vielen Orten zerstören, werden durch die Suche nach Profit angetrieben. Dadurch werden die Lebensräume wilder Tiere verändert und Bedingungen geschaffen, unter denen die neue Nähe zu Menschen die Übertragung von Viren in beide Richtungen ermöglicht. Die Regierungen waren vor der drohenden Gefahr dieser Pandemie weit vor ihrem Eintreten gewarnt worden. Die Pandemie ist eine kapitalistische Pandemie, und es gibt viele Hinweise darauf, dass auf sie weitere Pandemien folgen werden, sofern es keinen radikalen Wandel der Gesellschaftsorganisation gibt. Wir kriegen keine Luft, der Kapitalismus tötet uns.

Weder die Pandemie noch die gerade erst einsetzende Wirtschaftskrise sind eine Frage des Pechs. Alle Zeichen weisen darauf, dass wir in die schlimmste Wirtschaftskrise seit den 1930ern eintreten und dass jegliche Erholung vermutlich nur kurzfristig und oberflächlich sein wird. Eine Voraussage der Weltbank von vor wenigen Tagen behauptet, dass nicht weniger als 100 Millionen Menschen in extreme Armut fallen werden, andere Berichte gehen von 420 Millionen aus (ein Tageseinkommen von weniger als 1,90 US-$ wird als extreme Armut bezeichnet). Die Krise wird als Ergebnis des Virus dargestellt (Pech!), während sie tatsächlich eine lang vorhergesagte Krise ist. Covid-19 hat die Krise ausgelöst und sie verschärft, aber sie hat sie sicher nicht erschaffen. Martin Wolf, Chefkommentator für Wirtschaftsfragen bei der Financial Times, ein sehr geachteter und solider Wirtschaftswissenschaftler, betitelte das letzte Kapitel seines 2014 erschienenen Buches über die Finanzkrise von 2008 mit »Nach der Flut das Feuer« . Der Titel ist dem Spiritual »Mary, Don’t you weep« [»Mary, weine nicht«] entnommen: »Gott gab Noah das Zeichen des Regenbogens, nach der Flut das Feuer«. James Baldwin nutzte den Satz 1963 als Titel für sein einfluss­reiches Buch über die rassistische Diskriminierung in den Vereinigten Staaten von Amerika und das Lied wurde von der schwarzen Menschenrechtsbewegung in den 1960er Jahren aufgegriffen. Baldwins Buch und die schwarze Menschenrechtsbewegung sagten: »Passt auf, wenn sich nichts ändert, wird es beim nächsten Mal Feuer geben«. Wolf sagte in einem anderen Kontext etwas Ähnliches: »Die Krise 2008 war schlimm, wie Noahs Flut, aber die nächste wird weitaus schlimmer sein, nach der Flut das Feuer«.

Dies ist das Feuer nach der Flut. Und zwar im doppelten Sinne. Als Ausbruch des Zorns gegen die rassistische Unterdrückung und auch als kapitalistische Krise, die, wie vorhergesagt, bereits jetzt viel schlimmer ist als die Krise von 2008. Diese beiden müssen zusammenkommen, das Feuer des Zorns muss sich kaskadierend von der Frage des Rassismus zur Frage der Ungleichheit und zur Frage der gewaltigen Unterschiede in der Auswirkung des Virus auf aus sozialen und rassistischen Faktoren benachteiligte Gruppen, zur Frage der obszön riesigen Summen an Geld, die von denen eingefahren werden, die vom Virus profitieren, zur Frage der kapitalistischen Zerstörung der Natur bis zur simplen, fatalen Schlussfolgerung bewegen: »Wir kriegen keine Luft, der Kapitalismus tötet uns«.

Ein Bild zorniger Entschlossenheit

Die letzten Wochen haben die beeindruckende Kraft der Bewegung verdeutlicht. Aus dem Shutdown heraus ist sie mit ihrer freigesetzten Energie an uns vorbeigerauscht. Ganz offensichtlich kam sie nicht aus dem Nichts: Sie ist Ausdruck des aufgestauten Zorns, aber auch Ausdruck gesammelter Organisierungserfahrungen, die Arbeit von häufig kleinen, lokalen Gruppen, die sich treffen, diskutieren und gegen lokale Missstände aktiv werden und die die Verbindung zwischen dem Rassismus und anderen Formen der Unterdrückung herstellen.

Das vielleicht Gute an Trump (sofern so etwas überhaupt vorstellbar ist) ist, dass er ein Symbol ist, das so viele unterschiedliche Ausdrücke des Zorns auf sich vereinigt: ein Symbol des Rassismus, des Sexismus, des Militarismus, der sozialen Ungleichheit, des Imperialismus, der Scheinheiligkeit, der Umweltzerstörung. Die überraschende Stärke der Bewegung der letzten zwei Wochen hat vielleicht auch eine überraschende Schwäche auf der anderen Seite offengelegt. Trumps Show ist die eines typischen Tyranns ohne Substanz. Er stellt sich wie ein leerer Machoangeber dar. Eine Show der Stärke, basierend auf Fiktion. Und nicht nur Trump: Bolsonaro, Orban, Duterte, Johnson, Erdogan. Sollte der so häufig kommentierte Bedeutungszuwachs dieser diktatorischen Politikstile in so vielen Teilen der Welt nicht so sehr als Krise der Demokratie interpretiert werden, sondern als Aufstieg von Clowns, als Aufstieg von substanzlosen Machoangebern?

Ausweitung von Fragilität

Während der letzten 30 Jahre ungefähr, war der Kapitalismus nicht nur durch zunehmende Gewalt charakterisiert, die durch neoliberale Vorstellungen gerechtfertigt wurde, sondern auch durch sein zunehmend fiktives Wesen. Die Ausweitung des Reichtums, die fast vollständig nur den Reichen zugute gekommen ist, basiert in weit größerem Ausmaß auf der Ausweitung des Kredits, denn auf der Ausweitung des Werts. Anders ausgedrückt: Es handelt sich um die Antizipation von Reichtum, der bislang noch nicht produziert wurde, einer Ausbeutung, die noch nicht stattgefunden hat. Die Ausweitung des Kredits, die sich selbst während des wirtschaftlichen Zusammenbruchs der letzten Wochen im Anstieg der Börsenkurse gezeigt hat, ist eine Ausweitung der Fragilität. Vielleicht ist die Leere und Fragilität des diktatorischen Führers, die sich in den Kämpfen der letzten Tage gezeigt hat, ein Spiegel der Leere und Fragilität eines scheinbar unbesiegbaren Systems. Deshalb ist es vielleicht nicht lachhaft, sich vorzustellen, das ganze System zu stürzen. Vielleicht. Vielleicht bin ich aber auch nur zu hoffnungsvoll.

John Holloway lehrt Soziologie an der Benemérita Universidad Autónoma de Puebla in Mexiko. Er schrieb u.a. die Bücher »Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen« und »Kapitalismus aufbrechen«.

Titelbild: Protest in Washington, DC nach dem Mord an George Floyd: Die Menschen tragen ihren Zorn gegen rassistische Polizeigewalt auf die Straße. Foto: Geoff Livingston (CC/flickr.com)

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