»Ich kann nicht zuhause sitzen und schweigen«

Rojin aus Kurdistan-Iran verschlug es 1993 auf ihrer Flucht vor dem Mullah-Regime nach Deutschland. Ihr eigentliches Ziel war Schweden, doch am Flughafen Frankfurt wurde Rojin von den deutschen Behörden geschnappt und an der Weiterreise gehindert. Nach mehreren Jahren in Deutschland führte ihr Weg sie 2014 nach Köln und weiter zur Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim (SSM), wo sich Rojin bis heute unermüdlich für die Menschen in ihrer kurdischen Heimat einsetzt. Mit CONTRASTE-Redakteur Hans Wieser sprach sie über die aktuelle Situation im Iran.

CONTRASTE: Hallo Rojin, danke, dass du uns an deiner Geschichte teilhaben lässt. Ich erinnere mich an das Jahr 2014, als du erstmals zur SSM kamst. Damals konntest du noch nicht bleiben…

Rojin: Ja stimmt, ich bin für etwa ein halbes Jahr nach Kurdistan-Irak gefahren. In meine Heimat im Iran durfte ich ja nicht. Wieder zurück in Köln war ich ohne Wohnung, Job und Geld, doch ich kannte bereits die SSM und das stellte sich als Glücksfall heraus.

Du bist ja sehr engagiert und immer im Einsatz für deine Mitmenschen, welche Rolle spielt dabei die SSM?

Bei der SSM fand ich einerseits selbst Unterstützung durch Bereitstellung von Wohnraum und sinnvoller Beschäftigung und zweitens kann ich über die Wohnungsauflösungen und Spenden von SSM Menschen in Kurdistan sowie Schutzsuchenden in Kölner Flüchtlingsheimen mit dringend benötigter Kleidung, Hausrat und teilweise Möbeln helfen.

Möchtest du über deine Fluchtgründe sprechen?

Ja, ich war im Iran politisch aktiv. Als es unter dem Schah immer wieder zu Massenprotesten und Demonstrationen unterschiedlicher Gruppierungen kam, war ich 14 Jahre alt und wir Kurd*innen waren auch für eine Revolution. Als der Schah dann ins Exil geflohen war, fühlten wir uns kurz in einem freien Land. Bis die Mullahs um Chomeini an die Macht kamen. In Kurdistan konnten wir uns zwei Jahre länger frei fühlen als in anderen Städten und Gebieten im Iran. Dann fand ein Referendum zur Staatsform des Iran statt und etwa 90 Prozent der Kurd*innen stimmten klar gegen das Mullah-Regime, doch die hatten bereits zu viel Macht und begannen mit großer Armee, Waffen, Helikoptern und Bomben die kurdische Bevölkerung zu unterdrücken. Es gab zwei große Parteien, Komalah und die Demokratische Partei Kurdistans, die neben der Peschmerga gegen das Regime und für Freiheit kämpften. Als die Peschmerga immer weiter und schließlich in die Berge zurückgedrängt wurden, war die Bevölkerung schutzlos dem Terror der Mullahs ausgeliefert.

Ich war Mitglied der Partei Komalah, die waren linker, und als das Re­­gime alle großen Städte besetzte, musste ich untertauchen. Ich hatte mich in den ersten Monaten hungernd in einem Keller versteckt. Nach einiger Zeit wurde es ruhiger und so etwas wie Normalität kehrte ein, aber die Menschen hatten Angst, die Straßen waren leer und es galt die Sharia. Ich war mittlerweile 15 Jahre alt und musste die Schule verlassen, weil ich mich weigerte, ein Kopftuch zu tragen.

Um mich halbwegs frei bewegen zu können, schnitt ich meine Haare ab und trug Männerkleidung. Eines Tages wurde ich von einem Pasdaran (Revolutionsgardist) angesprochen, als Frau (ohne Kopftuch) erkannt und ins Gefängnis gebracht. Zum Glück konnten sie keine Verbindung zum Widerstand herstellen und so kam ich mit Hilfe meiner Mutter wieder frei. Meine Mutter konnte die Revolutionsgarden davon überzeugen, dass ich ein wenig verrückt sei, aber harmlos. Allerdings wurde ich vom Regime zu Hausarrest verurteilt und mir ging es sehr schlecht. Ein paar Mal wollte ich mich selbst umbringen. Ich konnte nicht mehr frei atmen, konnte ohne Kopftuch nicht in die Schule, nicht raus, das war kein Leben.

Inzwischen durften sich auch Frauen den kämpfenden Einheiten anschließen und es gelang mir, in die Berge zu fliehen. In den neun Jahren unter schwierigsten Umständen wurde ich zweimal verwundet und sah viele Freund*innen sterben. Ich wurde sehr krank und in den Bergen war es nicht möglich, die nötige medizinische Versorgung zu gewährleisten, das war 1993.

Wie kommst du heute an aktuelle Informationen aus dem Iran?

Freund*innen und Bekannte schicken mir übers Internet Filme und Bilder vom Geschehen und der Situation im Land. Und auch Menschen, die nach einem Gefängnisaufenthalt in den Irak flüchten konnten, erzählen von Folter und Massenvergewaltigungen an Mädchen und Frauen. Ich habe viel geweint beim Zuhören.

Wie schätzt du die aktuellen Proteste ein?

Das Regime hat große Angst. Sie wissen, jetzt ist eine Revolution im Gange, nicht so wie der Widerstand in Kurdistan seit über 40 Jahren, der »nur« die kurdische Bevölkerung betraf und von der restlichen Welt kaum wahrgenommen wurde. Aber heute, nach dem Mord an Jina Mahsa Amini steht das ganze Land auf und nun sind 16- bis 20-Jährige auf der Straße. Diese Jugendlichen und Student*innen haben echt Mut, denn sie wissen, wie schrecklich das Leben unter dem Mullah-Regime ist und dass sie auf der Straße sterben können. Die Menschen haben genug, sie sagen: entweder Freiheit oder Tod. Manche islamischen Länder arbeiten an Verbesserungen – der Iran nicht!

Worum genau geht es bei den Protesten?

Es geht vor allem um Freiheit, alles im Iran ist verboten, Frauen werden zur Heirat gezwungen, Scheidung geht nicht. Die Frauen sind finanziell abhängig, alles gehört dem Mann, keine Freiheit. Diese Revolution, nach dem Mord an Jina, ist eine Frauenrevolution unter der Parole: Frau, Leben. Freiheit!

Welche Gruppen stehen dahinter bzw. organisieren sie?

Die Menschen selbst, darum sage ich Revolution. Früher in Kurdistan spielten die Parteien eine große Rolle, doch diesmal kommt der Widerstand von unten, selbstorganisiert von der Bevölkerung. Die Parteien halten sich zurück, um dem Regime nicht weitere »Gründe« für eine Eskalation der Gewalt zu liefern.

Was ist dein persönlicher Eindruck von den Geschehnissen?

Am Anfang sah es nicht nach einer Revolution im Iran aus. Dann wurden andere Staaten aufmerksam und zeigten sich mit den demonstrierenden Menschen solidarisch. Auch Unis, Schulen, LKW-Fahrer, Arbeiter*innen, jetzt machen alle mit und schließen sich dem Protest an. Früher hörten die Demonstrationen nach einigen Tagen der Gewalt durchs Regime wieder auf, die Angst der Menschen vor Gefängnis und Tod wurde zu groß. Heute hält der Protest an, die jungen Menschen wollen Freiheit und keine Unterdrückung mehr, die Menschen wollen eine Zukunft, sie können nicht mehr zurück und sie werden es schaffen – wir werden gewinnen.

Wie reagiert das Regime?

Sie versuchen mit aller Kraft, an der Macht zu bleiben, doch einige vom Regime erkennen die Lage und wollen nicht mehr mitmachen. Auch die internationale Solidarität übt Druck auf das Regime aus.

Welche Gefühle und Gedanken löst das in dir aus?

Bei mir löst es Freude aus. Freude, dass sich für die Menschen im Iran endlich etwas zum positiven wendet und Freude, wenn ich meine Familie und meine Heimat wiedersehen kann. Ich denke täglich an meine Heimat, mein Körper ist in Köln, meine Gedanken und Gefühle bei meinen Lieben und den, für die Freiheit gestorbenen Menschen. Und ich kann nicht zuhause sitzen und schweigen, habe kein Wochenende und Privatleben, ich versuche immer etwas gegen das diktatorische Regime zu tun und freue mich, wenn es stürzt.

Verfolgst du die Berichterstattung in deutschen Medien?

Ja schon, ich nutze TV, Radio und Internet, leider gibt es im deutschen Fernsehen nicht so viele Berichte. Aber die Sichtweise hat sich inzwischen verändert, früher war die Berichterstattung über Kurdistan/Iran hier eher negativ, nun nicht mehr.

Wie können wir die Proteste im Iran unterstützen?

Zum Beispiel mit Sachspenden wie Medikamente und Winterkleidung oder mit Geldspenden. Mediale Unterstützung wäre auch sehr wichtig und Demonstrationen wie zuletzt in Berlin mit rund 80.000 Teilnehmer*innen, das gibt uns Kraft. Deutschland ist ein freies Land, darum ist auch meine Erwartung an die freien Bürger*innen etwas höher, den Protest im Iran zu unterstützen.

Liebe Rojin, vielen Dank für deine Offenheit!

Foto: Rojin S.

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