Demokratischer Konföderalismus und Stadtteilarbeit

Was hat Internationalismus mit unserer Nachbarschaft zu tun? Wie hilft die Idee des demokratischen Konföderalismus bei der politischen Basisarbeit weiter? Der Artikel zeigt einige Überlegungen zu diesen Fragen aus persönlicher Perspektive auf.

Hendrik, Initiative demokratischer Konföderalismus

In der linken Bewegung in Deutschland fehlt es an Perspektiven. Ich war sicher nicht allein mit diesem Gedanken, als ich mich vor ungefähr zehn Jahren auf die Suche machte. Ohne klare Idee. Doch klar war: Mit der festgefahrenen Praxis der Linken aus der BRD geht es nicht weiter, wenn wir eine sozialistische Revolution anstreben. Nicht, dass es keine Aktivitäten gab, zu tun war immer jede Menge: zum Beispiel Proteste gegen die EU-Austeritätspolitik, Antifa-Mobilisierungen, Kämpfe für soziale und bezahlbare Städte und vieles mehr. In den verschiedenen Themenbereichen gab es Ziele, doch mangelte es an umfassenden und konkreten gesellschaftlichen Perspektiven.

In dieser Stimmung lernte ich die Freiheitsbewegung Kurdistans im Rahmen einer Newroz-Delegation nach Bakur (Nordkurdistan) kennen. Besonders auffällig war der Wille zu Veränderung, den wir dort erlebten. Das war mehr als Hoffnung – es war der Mut, die entwickelten Ideen für das Leben jenseits des kapitalistischen Patriarchats in konkrete Schritte umzuwandeln, und das im vollen Bewusstsein, dass der Staat gnadenlos ist und vor keiner Gewalt, auch nicht vor Mord, zurückschreckt. Die breite gesellschaftliche Unterstützung der Freiheitsbewegung war überall spürbar und machte einen enormen Unterschied zu dem, was wir aus unserer politischen Praxis in der BRD kannten.

Die Erfahrungen in Kurdistan waren beeindruckend und gaben Kraft für neue Schritte. Sie zeigten deutlich, dass es von dieser Bewegung viel zu lernen gibt. In der folgenden Auseinandersetzung mit den Konzepten der Freiheitsbewegung Kurdistans, des demokratischen Konföderalismus und den Schriften von Abdullah Öcalan kam wiederkehrend der Gedanke: »Wir müssen gesellschaftlicher werden.« Doch dieser Satz zeigt zugleich die Kluft zwischen der hiesigen linken Politik und revolutionären Zielen. Denn wie soll ich ein wirkmächtiger Teil einer gesellschaftlichen Revolution sein, wenn ich mich selbst fern von der Gesellschaft fühle?

Im Konzept des demokratischen Konföderalismus ist die Basis die Kommune, die Nachbarschaft. Hier wird die Erfüllung der alltäglichen Bedürfnisse organisiert und ein Großteil der nötigen Absprachen und Entscheidungen getroffen. Nur wenn etwas auf dieser Ebene nicht lösbar ist, wird dieses Thema auf der nächsten Ebene (zum Beispiel in einem Stadtviertel, Stadtteil oder in einer Dorfgemeinschaft) bearbeitet. Übertragen auf unsere Situation hier in Deutschland wurde klar, dass wir die meisten der Menschen, mit denen wir im System des demokratischen Konföderalismus gemeinsam Lösungen erarbeiten wollen, noch gar nicht kennen. Was sind die Bedürfnisse, Fragen und Probleme der Menschen in der direkten Umgebung? Wie kommen wir miteinander ins Gespräch? Wer in unserer Umgebung nimmt bereits eine aktive Rolle dabei ein, Lösungskraft für gesellschaftliche Probleme zu sein?

Antworten auf diese Frage werden wir nicht erhalten, solange sich linke Praxis auf Kampagnen beschränkt – mit ihnen werden wir lediglich die Unterstützenden dieses konkreten Anliegens erreichen. Es braucht eine offenere Herangehensweise, bei der wir auch zuhören und nachfragen, anstatt lediglich die Themen vorzugeben, für die wir Unterstützung einfordern.

Diese Überlegungen waren prägend – für mich und einige weitere Genoss*innen. Sie führten zur Beteiligung in der »Solidarischen Initiative Neuenhäusen«, einer jungen Initiative in einem Stadtteil mit 8.000 Einwohner*innen zwischen Bahnhof und Altstadt im norddeutschen Celle. Die Initiative begann ihre Arbeit 2021 mit dem Gang von Tür zu Tür, um eine ausführliche Umfrage durchzuführen. Was bewegt die Nachbarschaft, was sind Probleme? Was fehlt? Wie stellen wir uns Lösungen und unsere Beteiligung vor? Die Ergebnisse wurden in einer Versammlung miteinander geteilt und daraus folgende Schritte beraten. Die rege Beteiligung machte den Wunsch sichtbar, sich mit anderen zusammenzutun. Auch die Umfrageergebnisse zeigten, dass es, neben vielen Problemen wie Diskriminierungen, unsicheren Orten und ökologischen Fragen, ein Bedürfnis nach Räumen gibt, in denen Begegnung und Austausch möglich ist.

Ein wichtiger Schritt der Initiative war, diese Themen nicht direkt weiter an die Verwaltung oder die Kommunalpolitik zu geben, damit dort diese Probleme gelöst werden. Vielmehr wurden unabhängig von diesen Institutionen eigene Wege erarbeitet. So wurden beispielsweise auf dem regelmäßigen FrauenDiversKinder-Brunch der »Solidarischen Initiative Neuenhäusen« große Plakate gemalt, die an Orten aufgehängt wurden, an denen sich Menschen unsicher fühlen, insbesondere aufgrund von aggressivem oder übergriffigem Verhalten von Männern. Bei dieser Aktion kam es zu vielen Gesprächen, und die Plakate prägten für einige Wochen den Stadtteil.

Eigene Strukturen aufbauen und Lösungen entwickeln

Diese Herangehensweise, eigene Wege zu entwickeln, statt lediglich Forderungen an die staatlichen Strukturen zu stellen, war ein guter Start der Initiative. In den Überlegungen der Freiheitsbewegung Kurdistans finden wir diese wieder – auf dem Weg zum demokratischen Konföderalismus ist es wichtig, eigene Strukturen aufzubauen und Lösungen zu entwickeln, statt sich an den Staat zu wenden und etwas von ihm zu erwarten. Denn je stärker der Staat ist, desto schwächer ist die demokratische Gesellschaft. Ziel der politischen Praxis in der Nachbarschaft muss also sein, das zu stärken, was Abdullah Öcalan als »moralisch-politische Gesellschaft« beschreibt. Also eine Gesellschaft, die basierend auf gemeinsamen Werten aktiv am politischen Leben teilnimmt. Entscheidend dabei ist das alltägliche Miteinander – nicht die Stimmabgabe bei Wahlen.

In der Nachbarschaft wird schnell sichtbar, dass es im Alltag strukturelle Hindernisse für dieses Vorhaben gibt. Viele Menschen wollen die Individualisierung überwinden und sich in die Nachbarschaft einbringen. Doch es bleibt oft zu wenig Zeit, nachdem sie im Betrieb und in der Familie gearbeitet haben. Wie können wir diesen Problemen begegnen?

Anstöße dazu finden wir überall auf der Welt, wo Bewegungen von unten aufgebaut werden. Persönlich konnte ich im Baskenland eine Situation kennenlernen, in der die politischen Auseinandersetzungen im öffentlichen Raum sehr präsent sind. Ein Satz, den ich dort hörte, blieb mir im Gedächtnis: »Demonstrationen sind gut, aber ihr müsst euch organisieren!« Das brachte eine Schwäche der linken Bewegung hierzulande auf den Punkt: Entscheidend ist weniger, Kampagnen oder Demonstrationen zu organisieren, sondern gemeinsam Lösungen für unsere sehr alltäglichen Probleme zu entwickeln. Dafür sind mehrere Dinge wichtig: ein Aspekt ist eine solidarische Kultur, die uns nicht nur bei Problemen zusammenbringt, sondern ebenso bei gemeinsamen Feiern. Diese verschiedenen Momente können wir als zwei untrennbare Seiten derselben Medaille betrachten. Ein weiterer Aspekt ist, darauf zu achten, dass die gemeinsamen Aktivitäten in der Nachbarschaft unseren Alltag letztlich erleichtern, statt uns noch zusätzliche Arbeit und Termine zu schaffen.

Verbindungen zwischen Menschen schaffen

Mit der Stadtteilinitiative haben wir uns bisher insbesondere die Kultur zu Herzen genommen und darin kontinuierliche Arbeiten entwickelt. Es finden regelmäßige kulturelle Abende statt, bei denen Gedichte und Lieder vorgetragen werden und vieles mehr miteinander geteilt wird. Ein Straßenfest der Initiative brachte viele aus der Nachbarschaft zusammen und schuf Verbindungen zwischen Menschen, die sich vorher nicht kannten, obwohl sie nah beieinander lebten. Ein Aspekt dieser Arbeiten ist auch ein Blick auf die Geschichte des Stadtteils und die vielfältigen Geschichten der Bewohner*innen. All das sind Puzzlestücke, die einen Beitrag zu einer gemeinsamen Stadtteilkultur von unten leisten.

Die Arbeit der Ökologie-AG der Initiative hat bereits sichtbare Erfolge gebracht: Gemeinsam mit anderen Akteur*innen wurde so viel Druck auf die Stadtverwaltung aufgebaut, dass die Fällung einer ganzen Lindenallee vorerst auf Eis gelegt wurde. Die AG hat dabei vor allem Räume geöffnet, in denen Menschen sich austauschen und widerständige Pläne gegen das Vorhaben entwickeln konnten, das von der Verwaltung an den Anwohner*innen vorbei geplant worden war.

Aktuell ist ein bedeutender Schritt der Aufbau eines Stadtteiltreffs. Er soll ein Ort für die Umsetzung von Ideen und Bedürfnissen aus der Nachbarschaft werden und so einem Mangel entgegenwirken, der bereits in der Umfrage von vielen benannt wurde. Er soll auch ein Ort werden, an dem wir uns gegenseitig unterstützen können und miteinander in Austausch treten.

Schon jetzt als gemeinsame Baustelle ist er ein partizipativer Ort – hier bringen sich Menschen von jung bis alt ein und werden selbst wirkmächtig für ein kollektives Projekt. Gleichzeitig sorgen die offenen Türen für Kennenlernen und Austausch.

Dieses offene Zusammenkommen hat eine wichtige Funktion für den Aufbau der Kommune als Ausgangspunkt für ein basisdemokratisches Miteinander. Das bedeutet auch, dass wir unsere politischen Ideen und Positionen im Stadtteil aktiv in Diskussionen einbringen. Nur so lernen wir gemeinsam als Nachbarschaft, nur so können wir als Nachbarschaft Entscheidungen treffen.

Die Nachbarschaft ist ein Ort, an dem wir die internationalistischen Erfahrungen in eine lokale Praxis übersetzen können – unter Berücksichtigung der lokalen Gegebenheiten und Bedürfnisse. Die Nachbarschaft fordert uns heraus, konkrete Perspektiven für eine zumindest mittelfristige Zeitspanne zu entwickeln. Sie ist der Ort, an dem unsere politischen Konzepte im Alltag überprüft und weiterentwickelt werden können. Diese Chance sollten wir nutzen.

Links:
Solidarische Initiative Neuenhäusen: https://neuenhaeusen.noblogs.org
Initiative Demokratischer Konföderalismus: https://www.i-dk.org/

Dieser Text erschien zuerst im Kurdistan Report 227, Mai/Juni 2023.

Titelbild: Eine Küfa (Küche für alle) kann eine gute Möglichkeit sein, um sich im Stadtteil zu vernetzen und zu organisieren – so wie hier im Bremer Stadtteil Gröpelingen. Foto: Stadtteilgewerkschaft »Solidarisch in Gröpelingen«

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