Ein solidarischer Mitmach-Kiosk

»Willkommen in der molli, was darf es für euch sein?«, heißt es seit dem 10. Juli im Bahnhofsgebäude der kleinen Ortschaft Salzderhelden bei Göttingen. Wer schon einmal mit dem Nahverkehrszug zwischen Hannover und Göttingen unterwegs war, dem ist vielleicht der kuriose Ortsname aufgefallen, jetzt gibt es in Salzderhelden neben dem Namen noch eine weitere Sache zu bestaunen: den ersten solidarischen Bahnhofs-Mitmachkiosk überhaupt.

Lotte Herzberg, Salzderhelden, K20 Projekthaus & »zur molli«

Auf den ersten Blick erscheint die molli wie ein normales angesagtes Café, mit hellem Interieur, bunten Zeitschriften und viel Liebe zum Detail. Aber schon beim Betreten wird schnell klar, hier passiert etwas besonderes: Die molli wird als solidarischer Mitmachkiosk unkommerziell und kollektiv betrieben. Dahinter steht der örtliche Verein Soli-Café Einbeck e.V., der im vergangenen Jahr bereits im Ortskern Salzderheldens regelmäßige Kultur-Veranstaltungen organisierte.

Das molliTeam besteht aus einer wachsenden Zahl engagierter, meist junger Menschen und ist rein ehrenamtlich und idealistisch tätig. Im Sinne des Mitmach-Charakters darf die Gruppe auch weiterhin wachsen, damit der Ort von möglichst vielen Menschen mitgestaltet wird und um die Verantwortung für den Betrieb des Cafés auf viele Schultern zu verteilen. Egal ob beim Bühnenaufbau für die sonntäglichen Gleiskonzerte, dem Kehren der Bahnhofshalle oder beim Kuchenbacken – im alltäglichen Betrieb fallen viele kleine Tätigkeiten an, die ausgeführt von wenigen Menschen ein Haufen Arbeit sind. Beteiligen sich viele ein wenig, ist der Betrieb für alle weniger aufwendig. Bereits nach einer Woche haben sich auch Dorfbewohner*innen engagiert. Jeden Dienstagmorgen macht zum Beispiel Ralf die molli-Schicht, der normalerweise bei VW in der internen Kommunikation als Journalist umtriebig ist.

Das Konzept des Mitmach-Kiosk passt dabei auch zur gemeinsamen Vision, wie das Konzept eines Bahnhof-Kiosk gerade hier in Salzderhelden neu erfunden werden kann: Die zugrunde liegende Idee war von Beginn an, im Dorf einen neuen Begegnungsort zu gestalten und neue Selbstverständlichkeiten mit dieser utopietauglichen Alternative erfahrbar werden zu lassen.

Ein rein veganes Angebot und keine festen Preise – das ist das Konzept vom solidarischen Mitmach-Kioks »zur molli«. Foto: zur molli

Seit März stand der Kiosk leer, nachdem der vorherige Pächter aus Altersgründen und durch die Corona­krise aufgehört hatte. Auch die Stadt Einbeck hatte als Verpächterin großes Interesse daran, den Bahnhof bald wieder zu beleben. Als das Team des Soli-Cafés der Stadtverwaltung das neue Konzept vorstellte, war diese zunächst ein wenig skeptisch. Nach ein paar Treffen war aber auch diese bereit, gemeinsam dieses Experiment zu wagen und freut sich, dass damit neuer Wind einkehrt. Denn Salzderhelden hat wie viele Dörfer in Deutschland zu wenig junge Menschen, die vor Ort bleiben oder sogar hinzuziehen. Und »das Thema Nachhaltigkeit ist einfach auch dran«, wie eine Mitarbeiterin der Stadt das Treffen der Vertragsunterzeichnung positiv und hoffnungsvoll beendete.

Inzwischen sitzen morgens auch regelmäßig die Herren aus dem örtlichen Männergesangsverein in der molli und unterhalten sich über das aktuelle Geschehen im Dorf, der Stadt Einbeck und auf der Welt. Denn seit hier die letzte Bäckerei zugemacht hat, ist der Kiosk einer der letzten Treffpunkte im Ort. Einkaufsmöglichkeiten gibt es hier schon länger nicht mehr, nur die Apotheke und zwei Arztpraxen halten sich bisher im Dorf.

Deswegen sind auch viele der älteren Dorfbewohner*innen froh, dass der Kiosk weitergeführt wird. Selbst die neue vollständig vegane Speisekarte wird gut angenommen. Die Wahl zwischen Hafer- und Soja-Reis-Milch für den Cappuccino-Schaum kommentierte bei der Eröffnung eine ältere Dame nur mit: »Achja, so ist das ja heutzutage bei den jungen Leuten. Meine Enkelin macht das auch so.« Diese und ähnliche Erfahrungen zeigen dabei deutlich, dass die Menschen auch außerhalb hipper Großstädte durchaus die gesellschaftlichen Debatten verfolgen und nicht abgehängt werden (wollen). Und die molli zeigt: Bei so einem vielfältigen pflanzlichen Angebot ist tatsächlich auch für alle Geschmäcker etwas dabei. Wer morgens zum Frühstücken kommt, kann wählen zwischen frischen Waffeln, belegten Brötchen und dem Held*innenfrühstück, einem großen Glas Müsli mit Sojajoghurt, frischem Obst und Haferflocken. Und auch am Wochenende gibt es ein leckeres Angebot, von roter Kokos-Linsensuppe, einem wechselnden Gericht des Tages bis zu verschiedenen selbst gebackenen Kuchen, die auch von anderen Gästen mitgebracht werden.

Über 100 Menschen kamen zur Einweihungsfeier – beispielsweise zwei Pastorinnen, verschiedene Schulleitungen, der Ortsbürgermeister aus Salzderhelden und die Bürgermeisterin aus Einbeck sowie Menschen aus Wirtschaft, Presse und vielem mehr. Bereits die lokale Presse kündigte dieses Event in der Zeitung mit der Überschrift »Lust auf Veränderung« an.

Seit September hat das neue Team zudem die Tradition wieder aufgenommen, samstagmorgens Brötchen von der Bäckerei aus dem nächsten Ort anzubieten, sozusagen als Samstagsbäckerei fürs Dorf. So ist die molli auch ein Versuch, dem fortschreitenden Aussterben der ländlichen Regionen etwas entgegenzusetzen.

Eine weitere Besonderheit am neuen Kioskbetrieb: Im Sinne eines solidarischen Miteinanders ist hier alles tauschlogikfrei organisiert. Das heißt, in der molli soll das Geben vom Nehmen entkoppelt werden. Für Essen und Getränke gibt es hier keine festen Preise, auf dem Tresen steht stattdessen eine große selbstgebaute Holzkiste mit der Aufschrift »Gib soviel du magst«, davor eine kleine Schüssel mit Wechselgeld. Egal, ob Gäste morgens auf dem Weg zum Zug nur schnell einen Kaffee To Go mitnehmen oder am Wochenende mit der gesamten Großfamilie zum Mittagessen vorbeikommen – alle sind eingeladen, einfach so viel Geld in die Holzkiste zu werfen, wie sie können und wollen. Auf diese Weise soll es allen Menschen möglich sein, Zugang zu einem schön gestalteten Raum, Essen, Trinken und einer Toilette zu bekommen. Und dabei erschafft die molli auf selbstverständliche Art und Weise einen Freiraum außerhalb der kapitalistischen Ordnung, die sonst so oft alternativlos erscheint. Es gibt keinen Konsumzwang und damit einen unkommerziellen Ort, der Menschen einlädt nicht in der Rolle der Konsument*innen aufzutreten. Im Idealfall soll in der molli zukünftig immer weniger Geld über die Theke wandern. Stattdessen sollen solidarische Mitgliedsbeiträge und Kooperationen die Lebensmittel und weitere Fixkosten solidarisch refinanzieren.

Auch gegen Lebensmittelverschwendung will das Team der molli sich stark machen. So stammt ein Teil der Lebensmittel aus Kooperationen mit Unternehmen, die unverkäufliche Ware an den Kiosk spenden, statt sie wegwerfen zu müssen. Ein Riesen-Anteil der Lebensmittel, die im heutigen System weggeschmissen werden, ist noch einwandfrei genießbar. Zum Beispiel wandern große Produktmengen in die Tonne, weil sich das Verpackungsdesign geändert hat oder mehr produziert wurde, als verkauft werden kann.

Die zahlreichen Experimente für ein solidarisches Miteinander erregen viel Aufmerksamkeit in der Gemeinde und auch darüber hinaus. Noch vor der Eröffnung konnte zum Beispiel ein Klavier in die Bahnhofshalle ziehen, das das Team auf Ebay-Kleinanzeigen gefunden hatte. Nachdem der Verkäufer vom zukünftigen Einsatzort hörte, spendete er das Klavier spontan. Selbst die Stimmung des Klaviers übernahm ein örtlicher Klavierbauer kostenlos. Jetzt steht das Klavier allen Reisenden 24 Stunden am Tag zu Verfügung, und auch aus dem Ort kommen inzwischen regelmäßig Anwohner*innen zum Üben vorbei. Ein weiteres musikalisches Highlight sind außerdem jeden Sonntag die Gleiskonzerte in der molli. Auf einem stillgelegten Gleisstück neben dem Außenbereich des Cafés sind schnell ein paar Bühnenelemente aufgestellt und bieten dann eine Plattform für überregionale und lokale Musiker*innen und Liedermacher*innen. Zur Eröffnung gab es sogar einen kleinen Poetry Slam mit Interpret*innen aus Hannover und Einbeck zu Themen wie Lebensmittelverschwendung und gesellschaftliche Utopien.

Auch die molli will ein Ort der Utopie werden. Mit dem veganen, solidarischen und tauschlogikfreien Betrieb ist das Ziel hinter der molli, möglichst vielen Menschen Alternativen aufzuzeigen, wie wir unser Miteinander neu, solidarischer und nachhaltiger organisieren können – eine »Halbinsel gegen den Strom«, wie es Friederike Habermann beschreiben würde. Schon die kleine Erfahrung des tauschlogikfreien Kaffee-Trinkens und eines kurzen Austauschs über das Konzept dahinter können wertvolle Gedankenanstöße geben.

Die Vision des tauschlogikfreien Miteinanders erproben die Menschen hinter der molli nicht nur im neuen Mitmach-Kiosk. Vor gut einem Jahr entstand im Ortskern das K20 Projekthaus, ein offenes Haus für politische Projekt- und Seminararbeit rund um die Themen Nachhaltigkeit und sozial-ökologische Transformation. Auch hier organisieren sich inzwischen ungefähr 30 Menschen tauschlogikfrei, vegan und drogenfrei und treiben weitere Initiativen vor Ort voran, wie den Co-Working Space, die Verkehrswende-Initiative Einbeck und einen bio-veganen Mitmachgarten. Für die Zukunft sind eine bio-vegane solidarische Landwirtschaft, ein Bildungshaus und eine offene Holz- und Metallwerkstatt geplant. Aber auch bundesweit engagieren sich Menschen rund um das Projekthaus in politischen Projekten und Netzwerken.

Die molli hat von Dienstag bis Samstag morgens zwischen 7.15 und 9.45 Uhr geöffnet, am Sonntag von 13 bis 16 Uhr.

Aktuelle Infos zum Angebot und zu Veranstaltungen: www.zur-molli.de

Instagram: zur_molli

Titelbild: zur molli

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