Ein Buchprojekt möchte die Geschichte sozialer Bewegungen und radikaler Linke im Mikrokosmos eines Kollektivbetriebs erzählen: dem Café Klatsch in Wiesbaden. Über ein Crowdfunding wurden dafür bereits knapp 8.000 Euro gesammelt.
Jannek Ramm, Wiesbaden
»Es lässt sich nicht mehr verhindern« – steht einmal quer über dem Flugblatt, mit dem das selbstverwaltete Café Klatsch seine Eröffnungsfeier im September 1984 bewarb. Selbstverwaltet arbeiten und leben: Das war die Losung, die Utopie, das Experiment, das sich bis heute nicht verhindern ließ.
Im Wiesbadener Rheingauviertel sind die Gemüsehändler*innen längst Architekturbüros gewichen, die es zu »ihrem Kiez« erklären. In den Hinterhöfen, wo handwerkliche Betriebe ihre Werkstätten hatten, bezieht heute viel eher die akademisch, digitale Kreativwirtschaft ihren »Space«. Hört man Geschichten aus den 80ern, bleibt nichts, als mit den Achseln zu zucken. Wenn einer davon schwärmt, dass es die Mieten hier einst erlaubten, im Café Klatsch zu arbeiten und ab und zu drei Monate zu reisen, ohne die Wohnung derweil unterzuvermieten, wird herzlich gelacht. Das ist Geschichte. Überhaupt, alles habe sich verändert, hört man dann, das Viertel, die linke Szene, die ganze Welt.
Doch immerhin: Beständig blieb das Café an der ruhigen Straßenecke, in dem es »in mancher Hinsicht etwas anders« zugeht, wie es auf einer Speisekarte von 1984 heißt. Was genau hier »anders« ist, erklärt ein Selbstverständnis des Betriebs heute so: »Seit 1984 betreiben wir ein linkes, alternatives Café mit abendlichem Kneipenbetrieb. Dabei spielt selbstverwaltetes Arbeiten eine zentrale Rolle. Das heißt für uns, dass wir unsere Entscheidungen selbst treffen, unsere Arbeitsbedingungen selbst bestimmen und keine Chefs brauchen, die sich an unserer Arbeitskraft und Kreativität bereichern!«
Das klingt nach historischer Kohärenz: Alles ist noch immer so wie am ersten Tag. Doch war das Café nicht als Ausgangspunkt und Finanzierungsgrundlage vieler weiterer Betriebe gedacht? Was wurde aus dem Anspruch eines gemeinsamen Lebens? Wohnens? Und was macht es mit einem Szene-Laden, wenn sich die Szene grundlegend verändert? Gar zusammenbricht? Was macht es mit einem Nachbarschaftscafé, wenn sich das Viertel derart ändert? Was mit einem linken Selbstverständnis, wenn die Verhältnisse von 1984 kaum noch vorstellbar erscheinen? In welchem Zustand ist die Utopie, wenn sich die ganze Welt um sie herum, über Jahrzehnte, wandelt?
Diese Linien, Brüche, Diskurse und Widersprüche möchte ein Buchprojekt nun nachzeichnen. Unter dem Arbeitstitel: »Mikroskopia« sollen die Theorien der Selbstverwaltung, in all ihrer Widersprüchlichkeit und die Geschichte sozialer Bewegungen im Mikrokosmos eines Betriebs gesucht – und gefunden werden. Schon in den ersten Schritten der Recherche offenbaren sich dabei unzählige Verbindungen zwischen geschichtlichen Linien und ihrem Abbild im Alltag des Wiesbadener Kollektivbetriebs.
Vom Protest zum Kollektiv
Da sind die Anfangsjahre, gewissermaßen kondensiert im Jahr 1984 selbst. Während in Wiesbaden das Café Klatsch eröffnet, wird am nahegelegenen Frankfurter Flughafen die Startbahn West fertiggestellt und in Betrieb genommen. Alle, die anfangs im Café Klatsch aktiv waren, waren in irgendeiner Weise auch in die Proteste gegen dieses Großprojekt eingebunden, hatten sich so politisiert oder ihre politischen Einstellungen in der gesellschaftlichen Vielfalt der Proteste im Aufwind gesehen. Dass sich der Bau schlussendlich nicht verhindern ließ, schien damals aber gar nicht so eindrücklich, wie heute zu vermuten wäre. Die sonntaglichen Proteste gingen weiter. Immer im Anschluss daran, in sogenannten »Sonntagsrunden«, trafen sich in Wiesbaden jene Menschen, die sich als erstes gemeinsames Projekt auf ein selbstverwaltetes Café einigen konnten.
Im selben Jahr entschieden zwei aus einem anderen Teil der Wiesbadener »Scene«, wie man damals buchstabierte, ihren politischen Kampf fortan aus der Illegalität zu organisieren: Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld. Ebenfalls 1984, davon ist auszugehen, gewann der rheinland-pfälzische Verfassungsschutz den kaiserslauterner Studenten Klaus Steinmetz als V-Mann. Er arbeitete vier Jahre später im Café Klatsch und weitere vier Jahre später führte er die Sicherheitsbehörden auf die Spur von Grams und Hogefeld, die sich inzwischen der RAF angeschlossen hatten. Während des Zugriffs im Bahnhof von Bad-Kleinen starben Wolfgang Grams und ein Beamter der GSG 9, Hogefeld wurde verhaftet – und Steinmetz als V-Mann enttarnt.
Das Café Klatsch wurde 1993, im Zuge dieser Ereignisse, zur medialen Projektionsfläche. Belagert von Presse und Kamerateams wurde eine Erzählung geboren, die sich bis heute hält: »Hier hat er gearbeitet, hier hat er die RAF-Leute kennengelernt.« Tatsächlich ist Steinmetz kurze Zeit im Café Klatsch, Jahre vorher, kaum der Rede wert. Seine Zeit zeichnete sich vor allem durch unabgesprochene Urlaube, Nichterscheinen zu Schichten und nachlässige Arbeitsweise aus. Ein vergleichsweise kleiner Eklat reichte Ende 1989, nach etwa einem Jahr, aus, um seinem wahrscheinlichen Rausschmiss selbst durch eine Kündigung zuvorzukommen. Eine Nähe des Kollektivs zur RAF war schlicht nicht gegeben. Dies mag die Entscheidung des damaligen Kollektivs erklären, abgesehen von einer launigen Presseerklärung, nicht mit der »Journaille« zu sprechen. Stattdessen wurde ein sarkastisches Merchandise T-Shirt mit der Aufschrift »Café Klatsch – Bekannt aus Funk und Fernsehen« auf den Markt gebracht. Doch es half nicht viel.
Die Wiesbadener »Scene« brach über die Frage, wie es einem V-Mann gelingen konnte, sich jahrelang unter ihnen zu behaupten, und den damit verbundenen Befürchtungen weitestgehend zusammen. Das Café Klatsch 1994: Ein Szene-Café ohne Szene? Für das restliche Wiesbaden wurde das Klatsch dazu zunehmend als RAF-Umfeld wahrgenommen. Ein Tiefpunkt war erreicht, auch wirtschaftlich. Die schlechtesten Umsätze seit der Gründung, notierte das damalige Protokollbuch der wöchentlichen Plena. Unter den ausgemachten Gründen hierfür finden sich in den Aufzeichnungen, neben der abschreckenden, angeblichen RAF-Nähe, jedoch noch weitere Überlegungen.
Etwa bescheinigt sich das Kollektiv, in den 80ern »hängengeblieben« zu sein. Innovationen müssten her, heißt es, auch Professionalisierung – eine weit verbreitete Debatte in selbstverwalteten Betrieben damals. Wie weit darf man sich dem wirtschaftlichen Druck von außen beugen, ohne sich selbst klammheimlich aufzugeben? Hier deutet sich bereits eine Analyse an, der in »Mikroskopia« ebenfalls nachgegangen werden soll. Auffällig ist nämlich, dass sich in der damals aufkommenden »New Economy«, dessen Auswüchse heute in den Kickertischen und Obstkörben dutzender Start-Up-Unternehmen weiterleben, viele Elemente der »alternativen Ökonomie« finden, also solche, wie sie etwa im Café Klatsch gelebt werden.
Plötzlich wird von Arbeitnehmer*innen in hohem Maße Identifikation mit dem Betrieb erwartet. Außerdem soll selbst von Angestellten unternehmerisch gedacht werden, »flache Hierarchien« ist kein linker Firlefanz mehr, sondern Selbstbild eines jeden, sich als zeitgemäß empfindenden Betriebs. All dies ist auch im Café Klatsch gewünscht. Hat die Selbstverwaltungsbewegung ihren größten Einfluss dort, wo sie es am wenigsten möchte? Im Herzen des gegenwärtigen Start-Up-Kapitalismus?
Solche und viele weitere Fragen können anhand von Dokumenten aus dem Café Klatsch-Archiv sowie aus Zeitzeugen- und Presseberichten und Interviews, vor allem hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf den Mikrokosmos eines kleinen, selbstverwalteten Betriebs diskutiert werden. Denn während es zu den historischen Eckpunkten oft reichlich Publikationen gibt, möchte »Mikroskopia« den Fokus auf die Bedeutung im Kleinsten legen. Wie wirken sich diese Ereignisse und Entwicklungen auf Projekte aus? Welche Effekte haben Diskurse und Geschichte auf den Alltag der Selbstverwaltung? Auf die Menschen, die dort arbeiten, sich bewerben oder kündigen?
Sozialer Mikrokosmos
Schätzungsweise 200 bis 250 Menschen haben über die Jahrzehnte im Café Klatsch gearbeitet. Und das nur, wenn man jene zählt, die länger als ein halbes Jahr dabei waren. Darunter Menschen, deren Eltern bereits dort gearbeitet haben. Es ist auch ein sozialer Mikrokosmos; Partnerschaften, Kinder, Freundschaften fürs Leben und tiefe Konflikte gingen hieraus hervor. Eine Ersatzfamilie für die einen, ein vergangener, längst verwelkter Traum für die anderen. In »Mikroskopia« sollen auch diese vielschichtigen Rollen und gruppendynamischen Prozesse anschaulich werden – und deren Schattenseiten. Gelingt es einem Projekt wie diesem, gesellschaftliche Diskriminierungen und Stigmatisierungen ausreichend zu reflektieren? Ergibt sich aus einem möglichst hierarchiefreien Raum automatisch auch ein wertfreies Miteinander? Welche Rolle spielen Prägungen und Vorurteile, die jede*r Einzelne mitbringt?
Abschließende Antworten wird es natürlich nicht geben, auf keine der gestellten Fragen. Das Buch versteht sich eher als Debattenbeitrag. Anhand eines konkreten Beispiels können Eindrücke, Anekdoten, Analysen, Erfahrungen und Kritik nebeneinander stehen und ein farbigeres Bild davon zeichnen, was es heißen könnte, die gegenwärtigen Verhältnisse zu überwinden. Wenn auch nur auf Probe, in einem Experiment, einem Utopie-Labor im Kleinsten.
Bis 9. Juni läuft das Crowdfunding, mit dessen Hilfe das Buch entstehen soll. Im Laufe des Jahres soll dann, in Zusammenarbeit des Abklatsch e.V. und dem freischaffenden Autor und Journalisten Jannek Ramm, die detailliertere Recherche und das Verfassen des Manuskripts erfolgen, bis schließlich ein Verlag gefunden ist, der »Mikroskopia« verlegt. Alle Infos und erste Eindrücke der Recherche finden sich auf den bekannten sozialen Medien.
Link: cafeklatsch-wiesbaden.de
Titelbild: Das Café Klatsch im Jahr 2021. Foto: Café Klatsch Archiv