Zapatistas erweitern ihr autonomes Einflussgebiet

Die zapatistische Bewegung hat es trotz staatlicher Repression geschafft, ihren Einfluss im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas auszudehnen. Mit mehr als 1.000 basisdemokratischen Gemeindeversammlungen und viel Mobilisierungsarbeit im Untergrund haben die Aktivist*innen ihre Parallelstrukturen ausgebaut – und das ohne Waffengewalt.

Regine Beyß, Redaktion Kassel & Luz Kerkeling, Münster

Chiapas ist seit dem bewaffneten Aufstand der Zapatistischen Armee zur nationalen Befreiung (EZLN) im Jahr 1994 einer der militarisiertesten Bundesstaaten Mexikos. Ausgerechnet die sozialdemokratische Regierung unter Präsident Andrés Manuel López Obrador hat die Militarisierung noch weiter vorangetrieben. Der Präsident hat eine 58.000 Mann starke »Nationalgarde« gegründet. Mit insgesamt über 230.000 Soldaten sind so viele Militärs wie noch nie im Einsatz und leisten vermeintlich polizeiliche Arbeit zum Schutz der Bevölkerung, die nicht von der Verfassung gedeckt ist.

Die Hochrüstung der Streitkräfte wird von Menschenrechtsorganisationen massiv kritisiert. Besonders pikant ist, dass das Militär meist dort stationiert ist, wo ökonomische Großprojekte geplant oder bereits im Entstehen sind, etwa auf der Halbinsel Yucatán und in Nord-Chiapas. Auch die ressourcenreichen und indigen geprägten Nachbarbundesstaaten Oaxaca und Guerrero sind von der Militarisierung betroffen.

Dem gegenüber stehen die selbstverwalteten Strukturen der Zapatistas: In ihren autonomen Landkreisen haben sie »Räte der guten Regierung« eingesetzt. Sie arbeiten regierungs- und parteiunabhängig in den so genannten »Caracoles« (deutsch: Schneckenhäuser), die als Verwaltungszentren für jeweils mehrere 10.000 Menschen in Landkreisen, Dörfern und Städten zuständig sind. Sie organisieren erfolgreich Lebensbereiche wie Bildung, Frauen- und indigene Rechte, Gesundheit, solidarische Ökonomie, Sicherheit sowie die Vernetzung mit linken sozialen Bewegungen in Mexiko und weltweit. Diese Struktur funktioniert von »unten nach oben«, das heißt, alle Beauftragten können von der Basis jederzeit abgerufen werden, wenn sie ihr Mandat nicht mehr zur Zufriedenheit aller ausüben.

Bisher existierten in Chiapas fünf solcher Caracoles. Nun haben die Zapatistas sieben weitere gegründet. Die Zahl der autonomen Landkreise stieg von 27 auf 31. Präsident López Obrador sah sich ob des großen Rückhalts der EZLN in der Bevölkerung vor Ort genötigt, die Ausweitung der zapatistischen Strukturen öffentlich zu begrüßen.

Die EZLN veröffentlichte im August ein Kommuniqué mit dem Titel »Wir haben die Umzingelung durchbrochen«. Darin gibt Subcomandante Moisés, Sprecher der EZLN, die Ausweitung der autonomen Selbstverwaltung bekannt. An dieser Stelle dokumentieren wir das sehr umfangreiche Kommuniqué in Auszügen:

Die Umzingelung durchbrochen

»Der Herrscher und seine Vorarbeiter (die mexikanische Regierung, Anm. d. Red.) bauen Mauern, Grenzen und Zäune, um zu versuchen, das einzudämmen, was sie für ein schlechtes Beispiel halten. Aber sie können es nicht tun, weil Würde, Mut, Wut, Rebellion nicht aufgehalten oder eingesperrt werden können. Selbst wenn sie sich hinter ihren Mauern, ihren Grenzen, ihren Zäunen, ihren Armeen und ihrer Polizei, ihren Gesetzen und Verordnungen verstecken, wird diese Rebellion sie früher oder später um Rechenschaft bitten. Und es wird weder Vergebung noch Vergessen geben.

Wir wussten und wir wissen, dass unsere Freiheit nur das Werk von uns selbst sein wird, den pueblos originarios. Mit dem neuen Vorarbeiter in Mexiko gingen die Verfolgung und der Tod weiter: In nur wenigen Monaten wurden ein Dutzend compañeros des Nationalen Indígena Kongress und des Indigenen Regierungsrates, soziale Kämpfer, umgebracht. Unter ihnen ein Bruder, der von den zapatistischen pueblos sehr respektiert wird: Samir Flores Soberanes, getötet, nachdem er vom Vorarbeiter gebrandmarkt wurde, der darüber hinaus die neoliberalen Megaprojekte fortsetzt, die ganze pueblos verschwinden lassen, die Natur zerstören und das Blut der pueblos originarios in Profit der großen Kapitale verwandeln.

Feierliche Einweihung des neuen autonomen Verwaltungssitzes Caracol 6 in La Unión, Chiapas, Mexiko: »Autonomes rebellisches zapatistisches Widerstandszentrum: Kollektiv des Herzens rebellischen Saatguts im Gedenken an den Genossen und Lehrer Galeano«
Quelle: Film von der EZLN

Deshalb, zu Ehren der Schwestern und Brüder, die gestorben sind, verfolgt und vermisst werden oder im Gefängnis sitzen, haben wir uns entschlossen, die Kampagne der Zapatistas, die heute zu Ende kommt und wir sie öffentlich machen, ›SAMIR FLORES VIVE‹ (Anm.: dt. ›Es lebe Samir Flores‹) zu nennen:

Nach Jahren der stillen Arbeit, trotz der Belagerung, trotz der Lügenkampagnen, trotz der Diffamierungen, trotz der Militärpatrouillen, trotz der Nationalgarde, trotz der als soziale Programme getarnten Aufstandsbekämpfungskampagnen, trotz des Vergessens und der Verachtung sind wir gewachsen und stärker geworden. Und wir haben die Belagerung durchbrochen.

Wir sind aufgebrochen, ohne um Erlaubnis zu bitten, und jetzt sind wir wieder bei euch, Schwestern und Brüdern und Geschwister*, compañeros, compañeras und compañeroas. Die Umzingelung der Regierung wurde zurückgelassen, sie hat nicht funktioniert und wird niemals funktionieren. Wir folgten Pfaden und Routen, die auf Karten oder Satelliten nicht existieren und die nur in den Gedanken unserer Ältesten zu finden sind. (…)

Dieses exponentielle Wachstum, das es uns heute ermöglicht, die Belagerung wieder zu verlassen, hat hauptsächlich zwei Gründe: Einer und der wichtigste ist die organisatorische politische Arbeit und das Beispiel der Frauen, Männer, Kinder und Älteren der zapatistischen Unterstützungsbasis. Von herausragender Art, die der Frauen und jungen Zapatistas. Compañeras jeden Alters mobilisierten sich, um mit anderen Schwestern, mit oder ohne Organisation, zu sprechen. Die jungen Zapatistas lernten, ohne ihre Vorlieben und Wünsche aufzugeben, über Wissenschaft und Kunst und steckten so immer mehr junge Menschen an. Die meisten dieser Jugendlichen, hauptsächlich Frauen, übernehmen Positionen und durchdringen sie mit ihrer Kreativität, ihrem Einfallsreichtum und ihrer Intelligenz.

Der andere ist die Regierungspolitik, die die Gemeinden und die Natur zerstört, insbesondere die der gegenwärtigen Regierung, der selbstbenannten ›Vierten Transformation‹. Die traditionell parteiangehörigen Gemeinden wurden durch die Verachtung, den Rassismus und die Gier der gegenwärtigen Regierung beleidigt und sind zu offener oder verborgener Rebellion übergegangen. Wer glaubte, dass er mit seiner konteraufständischen Almosenpolitik den Zapatismus spalten und die Loyalität von Nicht-Zapatistas erkaufen würde, was zu Konfrontation und Entmutigung führt, lieferte die fehlenden Argumente, um diese Brüder und Schwestern davon zu überzeugen, dass es notwendig ist, das Land und die Natur zu verteidigen.

Die schlechte Regierung dachte und denkt, was die Menschen erwarten und brauchen, sind monetäre Almosen. Nun antworten ihr die zapatistischen pueblos und viele nicht-zapatistische pueblos sowie die brüderlichen pueblos des CNI im Südosten Mexikos und im ganzen Land und beweisen, dass sie falsch liegt. (…)

In diesen bereits mehr als 25 Jahren haben wir gelernt. Anstatt Ämter in der schlechten Regierungen zu erklimmen oder eine schlechte Kopie derer zu werden, die uns demütigen und unterdrücken, richtete sich unsere Intelligenz und unser Wissen auf unser eigenes Wachstum und unsere Stärke.«

Die komplette deutsche Übersetzung des Kommuniqués könnt ihr hier nachlessen:

Titelbild: Visual Research / flickr.com (CC)

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