Politische Botschaften an den Wänden Athens

Stencils sind mit Schablonen gesprayte Botschaften, die seit fünf Jahren von einem politischen Künstler*innenkollektiv produziert werden. Wir treffen den brillant humorvollen »Psycho brunette boy« (seinen Klarnamen nennen wir aufgrund der subversiven Aktionen im öffentlichen Raum nicht) nach zwei Jahren wieder und sprechen mit ihm über die Arbeit, die politische Situation und das neu herausgegebene Buch.

Anja Lenkeit und David Klässig, Köln

Bereits seit fünf Jahren ist das selbstorganisierte kollektive Projekt »Political stencil« aktiv. Neben Streetart veranstalten sie auch Workshops. Den festen Kern bilden zurzeit vier Personen, zum weiteren Umfeld gehören wechselnden weiteren Aktivist*innen, welche auch alle in anderen Bewegungen aktiv sind, von LTBTIQ*- Geflüchteten und Arbeitsrechten bis hin zum Parko in Exarchia (siehe Contraste Nr. 420).

Es sei immer politischer Aktivismus in Griechenland vorhanden gewesen, aber bis 2008 hatten die Menschen Geld und Jobs, im Jahr 2008 sei dies zusammengebrochen, erzählt uns »brunette boy«. Er selbst ist Aktivist, seitdem er 16 Jahre alt ist. Angefangen habe er mit der Kunst als Sprayer, sein erster Slogan war für seinen Onkel, welcher aufgrund von Drogenmissbrauch gestorben ist. Erst später habe er mit politischen Botschaften angefangen, seine erste war »Sex and strikes require duration« (»Sex und Streiks brauchen Zeit«). Während der Demonstrationen gegen die Austeritätspolitik hat er Freund*innen dazu geholt: »Ich dachte, dass es nicht ausreicht, für eine kurze Demonstration auf den Platz zu gehen, ich wollte mehr tun, etwas Längerfristiges, was auch nach den Demonstrationen Präsenz hat.«

Da er Kunst studiert hat, ist ihm die Reproduktion der Machtverhältnisse im Kapitalismus durch den Wiederverkauf von Kunst ein besonderer Dorn im Auge. »Hier kommen Menschen an bestimmte Orte, um Kunst zu kaufen, sie in Lager zu bringen und wie Wölfe darauf warten, dass der Preis steigt, um wiederzuverkaufen. Kunst an Wänden dagegen ist für alle da.« So wird der öffentliche Raum von der Gesellschaft zurückerobert ,seine Gestaltung obliegt ansonsten zumeist dem Kommerz. Warum sie sich für stencils anstatt Graffitis entschieden haben? »Sie sind schneller angebracht, in drei Sekunden, schöner und akkurater zu sprühen, außerdem erhalten diese auch mehr Aufmerksamkeit. Die Veränderung der Gesellschaft spiegelt sich an den Wänden Athens wider.« Die Polizei interessiere es nicht, es fehle der Kommune zudem an finanziellen Ressourcen, die Botschaften und Graffitis zu entfernen. Über ihre Facebookseite machten sie ihre Arbeiten über die Grenzen Athens bekannt, selbst in Mexiko, der Türkei und Deutschland haben sie schon Streetart geschaffen.

Vor genau zwei Jahren hat uns Psycho brunette boy von seinem Plan berichtet, ein zweites Buch herauszubringen. Wir waren die ersten, die es in der Hand halten konnten und es wurde vor unseren Augen – wie jedes Buch – als Unikat mit einem eigenen Stencil versehen. Wie fühlt es sich an, das fertige Buch in der Hand zu halten? »Als hätte man zwei Jahre nicht auf Toilette gekonnt und nun kommt alles auf einmal.« Mit einer Crowdfunding-Kampagne wurde ein Großteil des Geldes für die Umsetzung gesammelt. »Das Geld kam hauptsächlich aus Griechenland, ein wenig aus Deutschland und noch weniger aus Norwegen, den USA und Großbritannien.« Zudem haben sie auf Soli-Veranstaltungen wie »live paintings mit Freibier« Spenden erhalten, trotzdem musste Psycho brunette boy noch aus eigener Tasche Geld vorstrecken.

Das Projekt ist ihm eine Herzensangelegenheit, die letzten zwei Jahre hat er neben Arbeit und Weiterbildung den größten Teil seiner Freizeit damit verbracht. Dabei sind auch Freundschaften auseinandergegangen, denn er hatte kaum noch Zeit: »Es war der Archivierungsgedanke einer Crew, die wie keine andere, lange zusammengearbeitet hat. Normalerweise leben wir bei unserer Arbeit damit, dass sie kurzfristig ist.« Neben der Geschichte des Projekts werden im Buch einzelne Streetart-Projekte mit großartigen Bildern und Erläuterungen auf Griechisch und Englisch vorgestellt.

Mit einer Aktion haben political stencil es bis ins staatliche Fernsehen geschafft, und sie ist eine der Lieblingsgeschichten der Gruppe: Sie haben gegenüber einem Einkaufszentrum einen erigierten Penis gesprüht, dessen Ejakulat die Worte »best yet to come« waren. In der Folge hat die Autobahn-Polizei der Gemeinde eine »Erregung« öffentlichen Ärgernisses gemeldet und bereits acht Monate danach beauftragte die Kommune Maler zur Beseitigung. Doch bereits einige Tage nach der Erstellung wurde von einem Ladenbesitzer aus dem gegenüberliegenden Gewerbegebiet eine private Firma zur Übermalung beauftragt. Die staatlichen Maler entfernten tatsächlich die Übermalung und legten den Penis wieder frei. Dies sah ein Anwohner, der die Polizei rief, welche die Maler verhaftete. Im Interview mit dem Maler im griechischen Fernsehen war das Gemälde im Hintergrund zu sehen, wobei der Penis zensiert wurde.

Psycho brunette boy hofft darauf, dass Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen an ihrem Werk interessiert sind. Das Buch online bestellt werden. Mit der ISBN kann das Buch auch Büchereien vorgeschlagen werden. Im Jahr 2020 ist eine Buchpräsentationstour in Deutschland geplant. Denn neben allem Aktivismus benötigt das Projekt auch Gelder, z.B. für einen Beamer oder Farbe.

Link: www.politicalstencil.com

Foto: Political Stencil


Wir lernen reisend

Anja Lenkeit und David Klässig sind Sozialwissenschaftler*innen, die im Zuge mehrerer Forschungsreisen selbstorganisierte Projekte in Griechenland und Spanien besucht haben. Das Ziel war es, mit den Beteiligten über die Themen Soziale Bewegungen, Selbstorganisation und Institutionalisierung zu sprechen, um sich ein eigenes, ungefiltertes Bild zu verschaffen. Im Sinne der Projekte und der dahinterstehenden Philosophien sind sie zu dem Schluss gekommen, dass sie diese für alle interessierten Personen zugänglich machen möch­ten. Jeden Monat stellen sie in der CONTRASTE eines der Projekte vor.

Mehr auf ihrem Blog unter: www.wirlernenreisend.wordpress.com

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