G20-Prozesse: »Es war eine Falle«

Der erste von mindestens acht Gruppenprozessen wegen Teilnahme an einer G20-Demonstration in der Straße Rondenbarg hat am 3. Dezember in Hamburg begonnen. Obwohl den Angeklagten keine konkrete Straftat nachgewiesen werden kann, sollen sie als Mitdemonstrierende kollektiv bestraft werden. Betroffene und Prozessbeobachter*innen sprechen von einer »Falle« der Polizei.

Gaston Kirsche, Hamburg

»Bislang unbekannte Täter hatten im Bereich der Straße Rondenbarg mehrere Sachbeschädigungen begangen«, meldete Polizeisprecher Holger Vehren um 23.23 Uhr am ersten Tag des G20-Gipfels 2017 in Hamburg über den Presseverteiler. »Die Polizisten waren von den mutmaßlichen Tätern massiv mit Flaschen, Bengalofackeln und Böllern beworfen worden, die auf ein Gelände flüchteten, welches mit einer Mauer und einem darauf montierten Zaun begrenzt war.« Das Bürgerkriegsszenario, welches der Polizeisprecher hier beschreibt, hat so allerdings nie stattgefunden – wie selbst das offizielle Filmmaterial der Polizei beweist.Interessant ist, was in dem Polizeireport fehlt: Angaben zu verletzten Polizisten oder beschädigter Ausrüstung. Es gab bei der Auflösung der Demonstration im Rondenbarg weder auch nur leicht verletzte Beamte noch den kleinsten Lackschaden an den Einsatzfahrzeugen. Etwas einsilbig erwähnt der Polizeireport die massiven Verletzungen bei den Demonstrierenden: »14 Personen wurden mit Verletzungen in Krankenhäuser transportiert. Über die Art der Verletzungen liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor.« Berichte von Demonstrierenden sind genauer: Da ist von schweren Knochenbrüchen die Rede. Einige Demonstrierende hatten versucht, vor der heranstürmenden Hundertschaft über ein auf einer Mauer montiertes Absperrgitter, einen Metallzaun, auf einen Firmenparkplatz zu flüchten. Es brach ab, wer drauf geklettert war, stürzte fast drei Meter tief auf Asphalt. Mit offenen Beinbrüchen und Verdacht auf Wirbelverletzungen wurden Demonstrierende auf Liegen und mit Halskrausen abtransportiert.

»Es war eine Falle«

Teilnehmende der Demonstration berichteten der »Hamburger Morgenpost«: »Polizisten hätten die Gruppe grundlos und gewaltsam auseinandergetrieben, gar den Zaun umgedrückt, damit die Flüchtenden von der Mauer stürzen. Das Geschehen sei ›traumatisch‹ gewesen.«

Eine der Verhafteten war Julia Kaufmann, Krankenschwester und aktiv in der ver.di-Jugend in Bonn. Sie beschrieb in dem Buch »Das war der Gipfel« (Verlag Assoziation A), was sie erlebte: »Der Angriff der Polizei kam für uns aus dem Nichts. Im Nachhinein wurde uns klar, dass es eine Falle war: Wir sollten in diese menschenleere Straße laufen, verprügelt und unter dem Vorwurf des schweren Landfriedensbruches verhaftet werden. Viele Betroffene berichten, sie hätten sich gefühlt, als seien sie überfallen und gekidnappt worden.«

Aufgebrochen waren die Demonstrierenden am frühen Morgen des ersten Tages des G20-Gipfels im Volkspark, wo nach wochenlangen Verbotsdiskussionen doch noch ein Protestcamp zugelassen worden war. Dort hatten sich morgens etwa 200 Übernachtende zusammengefunden, um an den Blockaden der Zufahrtswege zum Tagungsort in der Innenstadt teilzunehmen. Dazu sollte versucht werden, die Polizei in kleinen Gruppen zu umfließen, um möglichst nahe an den Tagungsort zu gelangen – das bereits in Heiligendamm beim G7-Gipel 2007 erprobte »Fingerprinzip«. Jeder Finger hatte eine Farbe: Im Volkspark startete der schwarze Finger. »Wir waren endlich auf der Straße und entschlossen, uns diesem Gipfel entgegenzustellen«, so Julia Kaufmann in ihrem Bericht. »Die meisten von uns waren Frauen, es gab Redebeiträge, Sprechchöre und Gesang, die Demonstration war laut. Dass uns im Industriegebiet um diese Uhrzeit vermutlich niemand hörte, war uns egal.«

Und der Polizei? Kam ihr vielleicht die Abwesenheit von Passantinnen gut zupass? Christiane Schneider, die 2017 innenpolitische Sprecherin der Fraktion der Linken in der Hamburgischen Bürgerschaft war und sich jahrelang mit der Aufarbeitung der Polizeieinsätze gegen die G20-Gipfelproteste beschäftigt hat, erklärt im Gespräch mit dem Autor: »Für mich ergibt sich aus den Akten und den Ausführungen der Innenbehörde im G20-Sonderausschuss, dass die Ereignisse am Rondenbarg nicht Ergebnis eines dynamischen Prozesses waren, sondern einer Falle.« Die anderen Demonstrationszüge kamen ziemlich weit, ohne von Polizei behelligt zu werden. Auf den »schwarzen Finger« warteten am Rondenbarg zwei Polizeihundertschaften, eine davon die BFHU Blumberg. »Die BFHU Blumberg ist eine der fünf im Jahr 2015 aufgestellten Einheiten spezialisierter Polizeikräfte der Bundespolizei für die Terrorismusbekämpfung, zu G20 wird sie gegen Demonstranten eingesetzt«, so die Rechtsanwältin Gabriele Heinecke. Die Demonstration, so schildert es Christiane Schneider, stieß zuerst »auf eine Eutiner Hundertschaft, dann, als sie vor der Konfrontation in den Rondenbarg auswich, auf die berüchtigte BFHU Blumberg der Bundespolizei. Diese stürmte binnen weniger Sekunden auf die vorderen Reihen des Zuges, zeitgleich rückten von hinten zwei Wasserwerfer und die Eutiner Hundertschaft an – die Falle schnappte zu.«

Kein Überfall auf die Polizei

Für die Erörterung im G20-Sonderausschuss des Hamburger Landesparlamentes sollte die BFHU Blumberg die Videoaufzeichnung zur Verfügung stellen. Es wurde zwar nur ein kurzer Ausschnitt herausgegeben, aber bereits der konterkariert die Behauptung eines angeblichen Überfalls auf die Polizei: »Man sieht nicht, dass Steine fliegen, aber man sieht Steine auf dem Boden liegen – 14 werden hinterher gezählt –, aber ein ›massiver Bewurf mit Steinen, Flaschen, Pyrotechnik‹, den die Polizei noch behauptete, bevor das Polizeivideo öffentlich wurde, ist etwas anderes«, so Christiane Schneider. Stattdessen ist im Polizeivideo ein Kommentar des für die Aufnahme zuständigen Beamten zu hören: »Die haben sie aber schön platt gemacht, alter Schwede«.

Zu sehen ist in dem Ausschnitt, wie die Beamten der BFHU Blumberg ohne Schilder und Knüppel auf die kleine Demonstration losstürmen und diese in weniger als einer Minute überrennen. Die auseinander stiebenden Demonstrierenden werden zu Boden gebracht. 73 Verhaftungen plus 14 Schwerverletzte, die nach Personalienfeststellung zwecks späterer Ermittlungen ins Krankenhaus kommen. Einige von denen, die fliehen konnten, werden später durch die Öffentlichkeitsfahndungen der eigens zur Verfolgung der G20-Proteste gegründeten Sonderkommission »Schwarzer Block« identifiziert. 86 Personen bekamen von der Generalstaatsanwaltschaft Hamburg im Herbst 2019 Anklageschriften zugestellt.

»Aber warum hätte die Polizei eine Falle stellen wollen? Ein Grund dürfte die Einschüchterung der Protestteilnehmer*innen sein, ein weiterer die Delegitimierung der Proteste, gerade nach der schlechten Presse, die die Polizei durch die Zerschlagung der Welcome-to-Hell-Demonstration am Vortag bekommen hatte. Ihre Version der Rondenbarg-Ereignisse stützte zudem die Behauptung, das Camp diene lediglich der Organisation gewalttätiger Proteste«, so Christiane Schneider.

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit

Am 3. Dezember 2020 begann am Landgericht Hamburg vor der Großen Jugendstrafkammer 27 unter dem Vorsitzenden Jugendrichter Georg Halbach die nichtöffentliche Hauptverhandlung gegen fünf Angeklagte, die am 7. Juli 2017 am Rondenbarg verhaftet wurden. »Den drei Frauen und zwei Männern, die damals 16 und 17 Jahre alt waren, wirft die Staatsanwaltschaft vor, gemeinschaftlich mit anderen Aufmarschteilnehmenden für die Gewalthandlungen gegenüber Personen und Sachen verantwortlich zu sein, die aus dem Aufmarsch heraus verübt wurden«, so Gerichtssprecher Kai Wantzen. Die Anklageschrift wirft ihnen »schweren Landfriedensbruchs in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte im besonders schweren Fall« sowie »versuchte gefährliche Körperverletzung«, und zusätzlich noch die »Bildung bewaffneter Gruppen« und »Sachbeschädigung« vor.

Warum zuerst ein Jugendgerichts­prozess? Das Jugendstrafrecht sieht vor, Presse und Öffentlichkeit auszuschließen – grundsätzlich zum Schutz heranwachsender Angeklagter. In diesem Fall geht es aber eher darum, keine kritische Presse und keine Öffentlichkeit im Saal zu haben – Berichterstattung und kritische Begleitung des Prozesses werden so erheblich eingeschränkt.

Auch in den Rondenbarg-Anklagen versucht die Hamburger Staatsanwaltschaft die Rechtsprechung des schweren Landfriedensbruchs massiv zu verschärfen und auszuweiten. Wie bereits in früheren Anklagen – etwa im Elbchausseeprozess – will die Staatsanwaltschaft eine Kollektivbestrafung einführen: Jede und jeder, der an einer Demonstration teilnimmt, sei für alles verantwortlich, was durch andere Teilnehmende aus der Demonstration heraus geschieht. Dabei beruft sie sich auf das »Hooligan-Urteil« vom 24. Mai 2017 (BGH 2 StR 414/16). Aber ausdrücklich stellte der BGH damals fest: Dadurch unterscheidet sich dieser Fall der »Dritt-Ort-Auseinandersetzung« gewalttätiger Fußballfans von Fällen des »Demonstrationsstrafrechts«, bei denen aus einer Ansammlung einer Vielzahl von Menschen heraus Gewalttätigkeiten begangen werden, aber nicht alle Personen Gewalt anwenden oder dies unterstützen wollen.

Kein konkreter Tatnachweis

Die Verteidiger*innen der jetzt Angeklagten bestehen in einer Erklärung auf einem konkreten Tatnachweis: »Keiner und keinem der Angeklagten wird so etwas vorgeworfen wie der Wurf eines Gegenstands in Richtung der Polizei oder eine Sachbeschädigung am Rande des Demonstrationswegs.« Ohne konkreten Tatnachweis wäre eine Verurteilung eine massive Einschränkung des Demonstrationsrechtes.« Damit würde die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes 1985 in der Freien und Hansestadt Hamburg nicht mehr gelten: Im sogenannten Brokdorf-Urteil entschied das BVG 1985, die Versammlungsfreiheit friedlicher Demoteilnehmender bleibt auch erhalten, wenn andere nicht friedfertig agieren würden.

Der erste Rondenbarg-Angeklagte Fabio konnte am 27. November 2017 nach dem Verhandlungstag vor dem Amtsgericht Altona mit seiner Mutter
seine Entlassung aus der seit dem 7. Juli andauernden U-Haft feiern. Foto: Gaston Kirsche

Im Februar 2018 platzte bereits eine Einzel-Anklage wegen der Demonstration am Rondenbarg: Im Prozess gegen den 18-jährigen Fabio Vettorel aus Norditalien zog sich die Beweisaufnahme so lange hin, bis die schwangere Jugendrichterin in Mutterschutz ging. Fabios offensive Prozessführung stieß auf viel Resonanz, die Öffentlichkeit war in den Verhandlungen zugelassen und die Solidarität groß. Fabio war zur Prozesseröffnung gegen die fünf Angeklagten jetzt in Hamburg und beteiligte sich zusammen mit über 3.000 Teilnehmenden am 5. Dezember 2020 an der Solidaritätsdemonstration »Gemeinschaftlicher Widerstand – Alle zusammen gegen ihre Repressionen«.

Infoblog der Roten Hilfe zum Prozess:
https://rondenbarg-prozess.rote-hilfe.de/

Titelbild: Demonstration am 5. Dezember im Hamburg zum Auftakt der G20-Gruppenprozesse. Foto: Rote Hilfe Hamburg

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