Widerstand und gelebte Utopien

Gerade jetzt, wo die selbstverwalteten Strukturen in Rojava buchstäblich wieder unter Beschuss stehen, lohnt sich ein Blick auf ein wichtiges Standbein der kurdischen Bewegung: die Organisierung der Frauen.

Regine Beyß, Redaktion Kassel

»Mir ist wichtig, dass die Dinge, die wir im Interview zur Sprache bringen, so niedergeschrieben werden, wie wir sie sagen. Denn in der Vergangenheit haben wir schon erlebt, dass Delegationen aus Europa gekommen sind, hier Reportagen gemacht haben, dann aber unsere Worte ihren Ansichten entsprechend interpretiert haben. Darin konnten wir uns dann nicht mehr wiederfinden. Wir möchten uns selbst vorstellen können und nicht irgendwelchen politischen Interessen entsprechend verzerrt dargestellt werden.« So beschrieb es eine Frau an der Frauenakademie in Mexmûr, einer Stadt in der Autonomen Region Kurdistan im Irak.

Um dieser Bitte Rechnung zu tragen, hat das Herausgeber*innenkollektiv des Buchs »Widerstand und gelebte Utopien« tatsächlich die meisten Interviews wortwörtlich und ungekürzt abgedruckt. Entstanden sind diese Interviews bei Delegationsreisen von Frauen aus Westeuropa im Jahr 2010. Die Texte sind nach wie vor aktuell: Sie sind einführend strukturiert und geben auch Leser*innen ohne viel Vorwissen die Möglichkeit, sich ein Bild von der kurdischen Frauenbewegung zu machen.

Für unseren Schwerpunkt haben wir einige Passagen aus dem Buch ausgewählt und sie um aktuelle Berichterstattung ergänzt. Die angesprochenen Themen Frauenwissenschaft, Frauenarmee und Frauenpresse können nur exemplarisch für die facettenreiche Organisierung von Frauen in Kurdistan stehen. Das Kollektiv »Avahî« berichtet auf Seite 12 über sein aktuelles Bauprojekt in Rojava und ergänzt eine Sicht der internationalistischen Solidarität.

Das Buch mit über 500 Seiten bietet demgegenüber ein sehr detailliertes Bild der kurdischen Frauenbewegung. Vor allem werden die Interviews von 2010 in einen historischen Kontext eingeordnet – das konnten wir in diesem Schwerpunkt leider nicht leisten. Nichtsdestotrotz sind die Erfahrungen und Ansätze, die wir in den ausgewählten Texten kennenlernen, gute Anregungen für eine weiterführende Organisierung hierzulande, für den internationalistischen, feministischen Freiheitskampf autonomer Frauenbewegungen und die Stärkung von Frauen in gemischten Strukturen.

»Widerstand und gelebte Utopien« ist vor kurzem im Rahmen der Edition Mezopotamya neu erschienen – eine Gemeinschaftsedition der Verlage Unrast, Mandelbaum und Edition 8.

Als Mitherausgeber*innen haben knapp hundert solidarische Verlage, Buchhandlungen und namhafte Persönlichkeiten das Projekt unterstützt. Auch die CONTRASTE war mit dabei. Anlass für das Solidaritätsprojekt war das Verbot des kurdischen Mezopotamien Verlags (Neuss) durch Bundesinnenminister Horst Seehofer im Februar. Dem Verlag wurde unterstellt, eine Unterorganisation der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) zu sein. Keines der vom Verlag verlegten oder vertriebenen Bücher ist in der Vergangenheit in Deutschland verboten oder beanstandet worden. Dennoch wurden sie tonnenweise beschlagnahmt, so dass sie für den Buchhandel und die Leser*innen nicht mehr erreichbar waren. Die wichtigsten der deutschsprachigen Titel des Mezopotamien Verlags wurden nun im Rahmen der Edition Mezopotamya neu aufgelegt. Finanziert wurde das Projekt aus Spenden.


Artikel im Schwerpunkt

Jineologie: Eine Wissenschaft von und für Frauen

Aktuell: Krieg statt Rojava

Frauenpresse- und medienarbeit: Eine alternative mediale Sichtweise auf die Welt

Frauenarmee: Selbstverteidigung und ideologischer Kampf

Ein neues Gesundheitszentrum: Internationalistische Solidarität auf einer Baustelle


Titelbild: Avahî

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