Mit 40 in den Ruhestand?

»Materieller Konsum macht mich nicht glücklich«, sagt Oliver Noelting. »Meine Lebensqualität hat sich durch bewussteren Umgang mit Geld und Ressourcen nicht reduziert, sondern erhöht«, kann man auf einer anderen Webseite lesen. Auf wieder anderen, gleichgesinnten Blogs findet man Tipps, wie man mit wenig Geld auskommt, etwa: keine Lebensmittel verschwenden, Kosmetika selbst machen, mit Kindern spielen ohne teures Spielzeug. Bin ich etwa auf einem Transition-Blog gelandet, geht es um Degrowth, um Klimawandel und ein Leben nach dem Kapitalismus?

Unsere Kolumne: Blick vom Maulwurfshügel – Illustration: Eva Sempere

Mitnichten! Beim »Frugalismus«, wie dieser neue Trend heißt, geht es nicht um gesellschaftliche Zukunftsentwürfe, um Nachhaltigkeit oder gar einen Systemwandel. Im Gegenteil: Genau so wichtig wie Spartipps sind die Anlagetipps auf den entsprechenden Webseiten. In einem Beitrag in der österreichischen Tageszeitung der Standard heißt es, »man redet viel über Geld, damit es im Leben weniger um Geld gehen kann«. Das Ziel ist, nur möglichst wenige Lebensjahre mit Erwerbsarbeit zu verbringen. Erreichen wollen die Frugalisten das, indem sie sparsam leben und einen großen Teil ihres Einkommens so anlegen, dass sie – nach durchschnittlich zehn Jahren – von der Rendite leben können. Es funktioniert also nur mit Kapitalismus. Dieser Trend aus den USA hat inzwischen auch in Deutschland und Österreich zahlreiche Anhänger.

Die Kritik der Lohnarbeit teilen die Frugalisten mit linken Arbeitskritiker*innen. Man wünscht sich gute, sinnvolle Arbeit, möchte mehr Zeit zum Leben haben. Schön, dass dieser Wunsch immer mehr Menschen umtreibt. Aber Arbeitszeitverkürzung für alle, bedingungsloses Grundeinkommen, gemeinsame Ökonomie oder Dinge gemeinsam nutzen, um nicht alles selbst kaufen zu müssen? Fehlanzeige. Politische oder kollektive Lösungen kommen den Frugalisten nicht in den Sinn. Stattdessen suchen sie ihre individuelle Antwort, die da heißt FIRE = »financial independent, early retire«, also finanzielle Unabhängigkeit, früher Ruhestand. Das autonome Individuum, der Mythos der absoluten Unabhängigkeit nur auf Grund der eigenen Leistung, das ist das Ideal, dem diese Menschen nacheifern.

Eigentlich schade, denn möglich ist das nur wenn mensch ausreichend verdient. Noelting ist Programmierer und gibt sein Netto-Jahreseinkommen auf seiner Webseite mit 27.000 Euro an und das bei einer wöchentlichen Lohnarbeitszeit von 24 Stunden. Das liegt, zumindest für Österreich, deutlich über dem Durchschnitt. Für Frauen, deren Durchschnittseinkommen noch niedriger ist, dürfte dieses Ziel sowieso kaum zu erreichen sein. Außerdem, so der Standardbeitrag, es funktioniert auch nur für ein Leben ohne Schicksalsschläge – und, so möchte man ergänzen – ohne Finanzkrisen. Die Sparpläne sind von vielen Unwägbarkeiten abhängig – dass alles zehn Jahre wie geplant läut, dürfte eher die Ausnahme als die Regel sein.

Dabei hätten wir durchaus Vorschläge anzubieten, wie es anders ginge. Vielleicht sollte man ihnen ein CONTRASTE-Schnupperabo anbieten?

Brigitte Kratzwald

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