Verkehrswende von unten

Für eine klimagerechte Zukunft braucht es sofort eine Verkehrswende und die Abkehr vom Auto. Wie eine autonome Selbstorganisierung mit Strahlkraft über die eigene »Bubble« hinaus aussehen kann, ohne von radikalen Forderungen abzurücken, zeigt eine Verkehrswende-Initiative aus Koblenz.

Salomon Hofstötter, Köln

Koblenz ist, wie die meisten deutschen Städte, komplett auf Autos ausgelegt. Man vermisst hier sowohl ein ausgebautes Netz an Nahverkehr, sowie Fahrradwege oder Fahrradstraßen. Wer mobil sein möchte, braucht, so scheint es, ein Auto. Der starke Pendlerverkehr sorgt für ein hohes Verkehrsaufkommen und der ÖPNV zeichnet sich durch seltene Fahrten und teure Tickets aus.

Für neue verkehrspolitische Perspektiven sorgen die Aktionen von »Koblenz Autofrei«. Unter diesem Slogan finden sich Menschen zusammen, um für eine radikale Verkehrswende zu kämpfen. Das Ziel ist ein autofreies, sozial und ökologisch lebenswertes Koblenz.

Keine feste Gruppe

Aktive, die an den Aktionen mitwirken, betonen immer wieder, dass »Koblenz Autofrei« keine feste Gruppe ist, sondern vielmehr eine Plattform, bei der alle mitmachen können und sich an einzelnen Aktionen beteiligen oder diese planen können. In Gruppen, so die Meinung, bilden sich schnell Hierarchien und festgefahrene Strukturen. In dieser autonomen Form der Organisierung finden unterschiedliche Meinungen und Positionen ihren Platz. Außerdem wird nicht die Gruppe in den Fokus genommen, sondern die Forderungen. Allerdings zeigt sich anhand der Berichterstattung über »Koblenz Autofrei«, dass diese Form der Organisierung für Außenstehende schwer greifbar ist und meist von einer Gruppe gesprochen wird. Im Netz sprechen die Aktivist*innen meist von einem »Wir«. Dieses »Wir« bezieht sich immer auf die Menschen, die am jeweiligen Projekt beteiligt waren und ist trotz solcher Verweise teils schwer greifbar.

Um darzustellen, wie die Verkehrswende in Koblenz aussehen kann, haben die Aktiven einen detaillierten Verkehrswende-Plan erarbeitet. Darin finden sich die zentralen Forderungen, Illustrationen der zukünftigen Nahverkehrslinien, Fahrradstraßen und der autofreie Innenstadtbereich. Mit dem Plan bekommt der Slogan ein ausgearbeitetes Fundament, welches den Forderungen mehr Ausdruck verleiht.

Die Hauptsäule des Konzepts ist eine Verlagerung des Verkehrs aufs Fahrrad – und zwar um 50 Prozent. Dafür sollen vorhandene Autostraßen zu Fahrradstraßen umgewidmet werden. Weitere Straßen werden nicht gebaut – und somit auch keine weiteren Flächen versiegelt. Als Beispiele dienen Städte wie Groningen, Rotterdam (Niederlande) oder Münster, denen die Verlagerung des Verkehrs gelungen ist. Die Innenstadt soll für den Autoverkehr komplett gesperrt werden. Straßen sollen von Fahrrädern und Bussen befahren werden können, freigewordene Flächen sollen zu Grünflächen, Verweilorten und für Gastronomie freigegeben werden.

Um den Verkehr in und um Koblenz unabhängiger vom Auto zu machen, soll zudem der ÖPNV ausgebaut werden. Hierfür soll die Taktung der Buslinien erhöht und RegioTram­linien sowie Seilbahnstationen gebaut werden. Für die RegioTramlinien können stillgelegte Bahntrassen wieder aktiviert werden. Andere Stadtteile sollen mit Seilbahnen verbunden werden. Die Besonderheit hierbei: Koblenz hat schon eine Seilbahn, die über den Rhein auf die Festung Ehrenbreitstein führt. Sie könnte recht einfach verlängert und weiter ausgebaut werden.

Damit Menschen vom Auto auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen, vor allem aber umsteigen können, sollen diese kostenlos für alle werden. Die aktuellen teuren Tarife des ÖPNV machen die Nutzung vor allem zu einer finanziellen Frage. Dass es möglich ist, einen kostenlosen ÖPNV anzubieten, beweist Luxemburg seit 2020.

Dem Verkehrswende-Plan zugrunde liegt außerdem die Idee der Politik der kurzen Wege. Es geht darum, die Orte außerhalb der Zentren zu beleben. Mobilität soll nicht dadurch erzwungen werden, dass Geschäfte des täglichen Bedarfs oder Arbeitsstätten nur im Stadtzentrum oder Gewerbegebieten liegen. Stattdessen soll Mobilität gespart werden, indem Kulturangebote, Einkaufmöglichkeiten und medizinische Versorgung auch in kleinen Orten verfügbar sind. Zudem stellt sich »Koblenz Autofrei« mit dieser Forderung gegen den Ausbau von Gewerbegebieten und der damit verbundenen weiteren Flächenversiegelung. Die Pendlerpauschale soll zur Finanzierung des kostenlosen ÖPNV umgeschichtet werden.

Sich die Straßen aneignen

Seit 2019 organisiert »Koblenz Auto­frei« spektren- und gruppenübergreifende Verkehrswende-Aktionstage, die den Forderungen Nachdruck verleihen und diese temporär umsetzen. Die jährlich stattfindenden Aktionstage haben immer einen anderen Schwerpunkt, sowohl was den Ort als auch was die Forderungen angeht. So wurde die Mainzerstraße für einen Tag zur Fahrradstraße, auf der Balduinbrücke fuhren für einen Tag keine Autos, dafür aber eine selbstgebaute Straßenbahn. 2021 fand der Aktionstag nahe des durch Hotelbaupläne samt Tiefgarage bedrohten Garten Herlet statt.

Die Aktionstage sind verbunden mit Raddemos, Infoständen, einer Fahrradwerkstatt, Umsonstflohmärkten, Kaffee und Kuchen, Redebeiträgen und vielen weiteren Möglichkeiten des Austausches. Die Aneignung der Straße als Ort des Aufhaltens, Flanierens, Sportelns und Spielens ist für viele Menschen eine neue Erfahrung.

Testwoche zum Nulltarif

Für Wirbel sorgte zuletzt ein im gesamten Stadtgebiet anonym verteilter Flyer, in dem die Stadt Koblenz mit den Koblenzer Verkehrsbetrieben eine Testwoche für den Nulltarif ankündigte. Alle Bürger*innen sollten in diesem Zeitraum kostenlos fahren. Die Stadt und die Verkehrsbetriebe stellten umgehend klar, dass es sich um einen Fake handle, was für Unverständnis in der Bevölkerung sorgte. »Koblenz Autofrei« stellte sich hinter die Forderungen der anonymen Aktivist*innen.

»Koblenz autofrei« zeigt, wie eine autonome Selbstorganisierung aussehen kann. Der Schwerpunkt der politischen Arbeit liegt nicht darauf, ein Label zu etablieren oder Identität über eine Gruppe zu schaffen, sondern viel mehr auf konkreten Aktionen. Diese verlassen den klassischen Rahmen von Demonstrationen und Kundgebungen und haben dank ihrer Kreativität und Offenheit eine Strahlkraft in Bevölkerung und Medien. Es wird nicht nur eine Utopie gefordert, sondern diese konkret ausformuliert. Immer wieder wird dazu aufgerufen, sich an Aktionen zu beteiligen. Der niedrigschwellige Zugang ohne hierarchisierte Gruppenstrukturen macht es möglich, selbst aktiv zu werden. »Koblenz autofrei« zeigt exemplarisch, wie für Klimapolitik in Städten gekämpft werden kann und gleichzeitig eine Alternative zur hegemonialen Vorstellung von linker Organisierung entstehen kann.

Titelbild: Besucher*innen des Verkehrswendeaktionstag auf der Mainzerstraße (2020) schauen sich den Verkehrswendeplan für Koblenz an. Foto: Koblenz Autofrei

Link: verkehrswende.koblenz.mobi

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