»Unsere Kontakte haben geholfen, dass Dinge passieren«

Die europäische Bewegung »Longo maï« hat seit Anfang der 1990er Jahre eine Kooperative in der Ukraine. Sie liegt im Dorf Nischnje Selischtsche im äußersten Südwesten des Landes, nahe der Grenze zu Ungarn und Rumänien. Seit Kriegsbeginn engagieren sich Menschen aus dem Longo maï-Netzwerk vor Ort, um Geflüchtete zu unterstützen, Materialtransporte und Unterkünfte zu organisieren. CONTRASTE-Redakteurin Regine Beyß sprach darüber mit Ben und Kathrin.

CONTRASTE: Ben, du bist vor ein paar Tagen aus Nischnje Selisch­tsche zurückgekommen. Wie hast du die Situation dort erlebt?

Ben: In den ersten drei Wochen nach Kriegsausbruch haben wir versucht, etwas aufzubauen, das hilfreich ist. Wir haben viele verschiedene Projekte parallel begonnen. Es war sehr chaotisch, getrieben von der dramatischen neuen Situation. Mit der Zeit hat sich klarer herauskristallisiert, was wir machen und wer welche Aufgaben übernimmt: Evakuierungsfahrten, Logistik im Lager, Kochdienste, … Da wir externen Unterstützer*innen kein Ukrainisch oder Russisch sprechen, haben wir vor allem die Kommunikation mit dem Longo maï-Netzwerk übernommen. Unser Team wurde nun abgelöst und andere Menschen aus den Kooperativen führen die Arbeit fort.

Wie ist das Dorf vom Krieg betroffen? Und welche Hilfen leistet ihr konkret?

Ben: In der Region Transkarpatien finden bisher noch keine Kampfhandlungen statt. Auch die Bombenangriffe sind noch viele hundert Kilometer entfernt. Es kommen aber natürlich viele Menschen aus anderen Regionen, um sich in Sicherheit zu bringen. Ich schätze, dass zurzeit mehr als 500 Binnenvertriebene im Dorf leben, bei normalerweise ein paar tausend Einwohner*innen.

Kathrin: Auf den beiden Longo maï-Höfen der Kooperative »Zeleny Hay« lebt normalerweise nur eine Handvoll Menschen, jetzt sind es um die 50. Das sind zum Beispiel befreundete ukrainische Aktivist*innen, zu denen schon früher Kontakte bestanden.

Ben: Im Ort wurde ein von Longo maï betriebenes Gästehaus zum neuen Zuhause für Kinder aus dem Donbas. Im Restaurant der Kooperative werden jetzt hundert Geflüchtete kostenlos mit zwei warmen Mahlzeiten pro Tag versorgt. Außerdem haben wir mit Freund*innen Transporte von Lebensmitteln, Medikamenten und anderen Gütern in die Ukraine organisiert, die meist über die rumänische Kooperative zu uns kamen. Vieles wurde weiter in die umkämpften Gebiete bei Kiew, Charkiv und Luhansk gebracht. Auf dem Rückweg konnten Menschen in sichere Gebiete mitgenommen werden. Weiter bis zur Grenze fahren dann vor allem Frauen und Kinder, weil die meisten Männer das Land nicht verlassen dürfen. Manche reisen dann doch weiter zu Verwandten und Bekannten im Ausland. Über unser Netzwerk konnten wir auch Zufluchtsorte vermitteln. Viele Familien wollen die Ukraine aber auch nicht verlassen.

Wie geht es den Menschen in Nischnje?

Ben: Die Geflüchteten sind natürlich extrem mitgenommen, viele sind sicher auch traumatisiert. Gleichzeitig gibt es auch Spannungen mit der lokalen Bevölkerung, zum Beispiel wenn sich Männer im wehrfähigen Alter ins Dorf flüchten, während gleichzeitig Männer aus dem Dorf zum Kriegsdienst eingezogen werden. Diese Themen versuchen wir einzubeziehen, zum Beispiel, indem wir uns für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung einsetzen oder indem wir versuchen, mit ihnen Tätigkeiten in der humanitären Hilfe oder Landwirtschaft zu organisieren – denn dann werden sie nicht eingezogen.

Wie wird die Arbeit jetzt weitergehen?

Kathrin: In den nächsten Tagen schicken wir vom Hof Ulenkrug nochmals einen mit Spenden gekauften Kleinbus auf den Weg. Er wird gefüllt sein mit angefragten Materialien und soll vor Ort für Evakuierungen und Transporte eingesetzt werden. Ansonsten sortieren wir uns gerade und schauen, wie es weitergeht. Wir sind ja eigentlich keine Hilfsorganisation und sind ganz schön an unsere Grenzen gekommen. Die Informationen verändern sich auch ständig. Zumindest in Nischnje ist aber der akute Bedarf vorerst gedeckt. Die Frage ist, was unsere langfristige Strategie sein kann und welche Themen wir in den Vordergrund rücken wollen, zum Beispiel die Unterstützung von Deserteuren auf beiden Seiten oder der Opposition in Russland, damit der Krieg schnell endet. Ein wichtiges anderes Thema ist die Landwirtschaft, die in der Ukraine gerade zusammenbricht und damit lokale und globale Ernährungsfragen aufwirft.

Inwiefern haben euch die Strukturen des Netzwerks geholfen?

Kathrin: Wir sind ja quer durch Europa vernetzt und unsere Kontakte haben auf jeden Fall geholfen, dass Dinge passieren. Und das war für die Menschen in Nischnje sehr hilfreich. Ich glaube, innerhalb von Longo maï führt es dazu, dass wir nochmal enger miteinander arbeiten und uns austauschen. Es gibt gerade verschiedene Arbeitsgruppen über die Kooperativen hinweg.

Ben: Es fahren jetzt auch Menschen in die Ukraine, die andernfalls diese Höfe vielleicht nicht besucht hätten. Und diese interne Solidarität, die das Netzwerk trägt, von der profitieren auch viele andere im Dorf. Zugleich ist es natürlich eine Gratwanderung, als »reiche« Ausländer*innen in der lokalen Situation in der Ukraine mit aktiv zu werden.

Wie kann mensch euch unterstützen?

Kathrin: Spenden sind auf jeden Fall weiterhin hilfreich, denn wir wissen nicht, wie lange die Situation andauern wird. Und selbst wenn der Krieg bald endet, wird es Mittel für den Wiederaufbau brauchen.


Ben lebt in der Longo maï-Kooperative »Mas de Granier« in Südfrankreich. Kathrin lebt in der Kooperative »Hof Ulenkrug« in Mecklenburg-Vorpommern. Lest hier einen Beitrag über die Longo maï-Kooperative in Nischnje Selischtsche.

Spendenkonto: Gesellschaft zur Förderung der Europäischen Kooperative e.V., IBAN: DE59 1506 1618 0007 7035 97, Stichwort: Flüchtlingshilfe (ab 50 Euro werden Spendenbescheinigungen ausgestellt)

Links: prolongomai.ch, forumcivique.org, radiozinzine.org

Titelbild: Helfer*innen beladen einen Bus in der rumänischen Kooperative »Hosman Durabil«, der sich danach auf den Weg in die Ukraine gemacht hat. Foto: Mathias Weidmann

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