Rojava in Bedrängnis

Die jetzt schon zehn Jahre alte Revolution in Rojava konnte das Joch von Krieg und Ausnahmezustand noch nicht abschütteln. Zur Realität dort gehören nicht nur die vielen Erfolgsmeldungen zum Projekt »Demokratischer Konföderalismus«, ebenso zählen dazu militärischer Kampf und Sicherheit nach innen.

Heinz Weinhausen, Redaktion Köln

Im Juli 2012 setzte die Öcalan-orientierte kurdische Bewegung alles auf eine Karte. Der Aufstand gelang, die Beamten und Soldaten des Assad-Regime zogen teils aus Nordsyrien ab. Von nun an wehten die Fahnen der jahrelang verfolgten kurdischen PYD-Partei und deren YPG/YPJ-Milizen in den Rojava-Provinzen Afrin, Kobanê, Efrîn. (Abkürzungen erklären wir im Glossar weiter unten.) Anstatt wie bisher einen kurdischen Staat gründen zu wollen, hatte die Bewegung in einer Phase der jahrelangen strategischen Neuausrichtung die Vision des »Demokratischen Konföderalismus« entwickelt. Diese steht für breite Rätedemokratie, für die Gleichberechtigung der Geschlechter und Inklusion von Minderheiten. Verschiedene kurdische Parteien und Organisationen schlossen sich an und wagten dieses gesellschaftliche Experiment und bilden heute die autonome Verwaltung von Nordostsyrien.

Die kurdische PYD mobilisierte von Anfang an mit ihrem neuen Empower­ment-Konzept viele Mitmachende, insbesondere viele Frauen. Allerdings musste die gesellschaftliche Umwälzung der patriarchalen Gesellschaft sich unter den Bürgerkriegsbedingungen gewissermaßen stets nach der Decke strecken. Mit dem Assad-Regime wurde ein Nichtangriffspakt geschlossen. Als die IS-Milizen im Jahre 2014 Kobanê einzunehmen drohten, gelang die bis heute heikle Zusammenarbeit mit der US-Armee. Mit deren Bomben aus der Luft und den kurdischen Bodentruppen konnte der IS besiegt und dessen gesamtes Gebiet in Nordostsyrien zurückerobert und für die neue Autonomie gewonnen werden. Dieser militärische und politische Erfolg gelang nur durch die Gründung des breit aufgestellten SDF-Milizenbündnisses, wo auch viele arabische Menschen gegen den religiösen Faschismus mitkämpften. Aus dem anfänglichen kurdischen Projekt wurde ein multiethnisches Befreiungs-Experiment. Schwere Rückschritte folgten. Im Jahre 2018 besetzte die türkische Armee völkerrechtswidrig die Provinz Afrin. Es folgten Gebiete an der syrischen Nordgrenze. Ständig drohen weitere Besetzungen. Auch eine Einigung mit dem Assad-Regime ist bisher gescheitert. Zuletzt wurde die Region auch noch von einem Erdbeben erschüttert (siehe Beitrag auf Seite 3).

Unser Schwerpunkt thematisiert die sehr schwierige Lage in Nordostsyrien. Im Embargo mussten und müssen die Menschen dort stets improvisieren. Tausende, meist junge Menschen, starben im Kampf gegen die IS-Diktatur. Viele Milizionär*innen konnten aber auch in den Krankenhäusern nahe der Front gerettet werden. Von ihrem Alltag dort als medizinische Fachkraft berichtet die Internationalistin Nûjîn Derya. Heute wirkt sie im kooperativen Frauendorf Jinwar mit, wo aufscheint, was in Rojava alles noch möglich scheint. Der Krieg und die ständige Kriegsbedrohung erfordern besonderen Schutz und Sicherheit, was der PYD und YPG/YJ auch großen Einfluss gibt. Diese Situation behindert die demokratischen Bestrebungen, was auch zu Menschenrechtsverletzungen führt. Heinz Weinhausen skizziert einige der Auswirkungen. Es ist sehr zu wünschen, dass der Ausnahmezustand überwunden werden kann und der »Demokratische Konföderalismus« weiterentwickelt werden kann. Wie die neue Ausrichtung überhaupt entstand und sich über die Jahre in der kurdischen Bewegung »einnistete«, macht Nûjîn Derya in einem weiteren Beitrag deutlich.

Titelbild: Kurdische Frauen treffen sich, um im »Garten von Sevê« – benannt nach einer gefallenen Freundin – Aprikosen zu pflücken. Foto: Jinwar


Kleines Glossar

Asayish | Kräfte der inneren Sicherheit

Jineolojî | Alternative Wissenschaft der Frauen

YPG – Yekîneyên Parastina Gel | Volksverteidigungseinheiten

YPJ – Yekîneyên Parastina Jinê | Frauenverteidigungseinheiten

KNC – Kurdish National Council | Oppositionsbündnis mit 14 Parteien, gegründet 2012

PKK – Partiya Karkerên Kurdistan | Arbeiter*innenpartei Kurdistan, gegründet 1978, Vorsitzender: Abdullah Öcalan. Er entwickelt in den 1990er Jahren und der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts das Konzept Demokratischen Konföderalismus.

PYD – Partiya Yekîtiya Demokrat | Partei der Demokratischen Einheit, 2003 gegründet, größte politische Partei der Kurd*innen in Rojava. Vertreterin der Demokratischen Autonomie

SDF – Syrische Demokratische Kräfte | Vereinte militärische Kräfte in Nord- und Ostsyrien der verschiedenen Ethnien, gegründet 2015


Werft auch einen Blick ins Inhaltsverzeichnis der April-Ausgabe >>>

Ihr wollt eine oder mehrere Ausgaben der CONTRASTE bestellen? Dann schreibt einfach eine Mail an: abos@contraste.org

Das könnte für dich auch interessant sein.