Die Idee einer sozialistischen Arbeitszeitrechnung

Wenn man nach alternativen sozialistischen Wirtschaftsmodellen und Utopien Ausschau hält, fällt die Bilanz doch recht nüchtern aus: Staatssozialistische Modelle haben wenig Reizvolles an sich, da auch in ihnen Herrschaft und Unterdrückung fortexistieren. Auch marktsozialistische Entwürfe wirken nicht überzeugend, weil sie immer noch auf das Geld und damit auf eine bewusstlose Form der Vergesellschaftung angewiesen bleiben. Anarchistische Utopien mögen daneben weitaus sympathischer erscheinen, doch bei ihnen mangelt es oft an ausgereiften gesamtgesellschaftlichen Konzepten. Aber es hat auch immer die Idee einer sozialistischen Arbeitszeitrechnung gegeben, die wir hier etwas näher ausführen möchten.

Initiative Demokratische Arbeitszeitrechnung (IDA)

Ihren Ursprung hat die Idee der Arbeitszeitrechnung bei den britischen Frühsozialist*innen und daran anknüpfende Erwägungen gab es auch schon von Karl Marx, etwa in seiner Kritik des Gothaer Programms. Wirklich ausgearbeitet wurde diese Idee jedoch erst von der Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK) Holland, einer rätekommunistischen Abspaltung der deutschen und niederländischen Arbeiterbewegung, in den 1920er Jahren.

Wie sollte nun diese Ökonomie gegliedert sein? Die Keimzellen der neuen Produktionsweise sollten die produktiven Betriebe sein, die sich zwar im gesellschaftlichen Eigentum befinden, aber stellvertretend für die Gesellschaft von den Arbeiter*innen des jeweiligen Betriebes verwaltet werden. Die Betriebe erstellen selbstständig Pläne für ihren künftigen Produktionszyklus, indem sie den hierfür erforderlichen Arbeitsaufwand in Stunden errechnen. Dies geschieht nach der Produktionsformel Produktionsmittel (P) + Rohstoffe (R) + Arbeit (A). Dabei stellen P und R Produkte vergangener Arbeit dar, die die Betriebe von anderen Produktivbetrieben beziehen müssen, während A die im anlaufenden Produktionsprozess neu hinzugefügte, lebendige Arbeit ausdrückt. Dadurch ergibt sich eine Gesamtstundenzahl für die jeweiligen Produkte der einzelnen Produktivbetriebe aus übertragener vergangener Arbeit (P+R pro Produkt) und neuer lebendiger Arbeit pro Produkt, durch die dann wiederum jedes einzelne Produkt in Arbeitsstunden ausgedrückt werden kann: Einzelprodukt = (P + R + A ) / Anzahl der Produkte. Damit wäre eine rationale Grundlage für eine interne Betriebskostenrechnung und Planung gegeben.

Diese individuellen Pläne sollen dann einer öffentlichen Buchhaltung zur Genehmigung vorgelegt werden. Ausschlaggebend für die Genehmigung sind rein sachlich-ökonomische Gründe: Hat der Betrieb im vorhergehenden Planungszyklus vernünftig geplant? Produziert er Güter, die tatsächlich nachgefragt sind? Wenn der Plan genehmigt wurde, bekommt der Produktivbetrieb die erforderlichen Stunden, die er im Plan aufgelistet hat, gutgeschrieben und kann damit P und R von anderen Betrieben beziehen sowie die eigenen Arbeitskräfte vergüten.

Mit Hilfe der Arbeitszertifikate, die in den Betrieben den Arbeiter*innen ausgezahlt werden, können diese dann wiederum Konsumgüter von den Konsumgenossenschaften beziehen. Konsumgenossenschaften sind ebenfalls selbstverwaltete Betriebe, die Konsumgüter von den jeweiligen Produktivbetrieben erwerben und an die Konsument*innen gegen Arbeitszertifikate weitergeben, wodurch auch zuverlässige statistische Erhebungen über den gesamtgesellschaftlichen Bedarf verschiedener Massenprodukte gemacht werden können. Aber auch Nischenprodukte haben in einer solchen Ökonomie ihren Platz, die von Einzelproduzent*innen individuell angeboten werden könnten. Eine solche Ökonomie würde die Vorteile der Marktwirtschaft nutzen, ohne ihre Nachteile in Kauf zu nehmen.

Neben den produktiven soll es auch öffentliche Betriebe geben, die die Grundversorgung mit bestimmten Gütern und Dienstleistungen (Gesundheit, Bildung, Wohnen, Energie, Versorgung der Arbeitsunfähigen) gewährleisten. Diese Güter können alle Mitglieder der Gesellschaft ohne jede Gegenleistung, also ohne Arbeitszertifikate, beziehen. Auch die öffentlichen Betriebe kalkulieren mit der Produktionsformel P + R + A und diese Mittel müssen der Gesamtgesellschaft natürlich entzogen werden. Dies geschieht mittels der Berechnung des »Faktors individueller Konsum« (FIK), der von der öffentlichen Buchhaltung ermittelt wird. Wenn etwa ein Drittel der gesamtgesellschaftlichen Arbeit auf die öffentliche Versorgung verwandt wird, dann läge der FIK bei 0,66, das heißt die Arbeiter*innen bekämen für eine geleistete Stunde nur noch 0,66 Zertifikate für ihren individuellen Konsum ausgezahlt, könnten aber die öffentlichen Güter immer frei erwerben.

Dabei ist es äußerst wichtig, noch zwei Punkte festzuhalten: Zum einen wird die gesamte wirtschaftliche Struktur von allen Gesellschaftsgliedern mitbestimmt. Ein allgemeiner Rätekongress als oberstes politisches Entscheidungsgremium, der sich aus Delegierten aller Betriebe und Konsumgenossenschaften zusammensetzt, soll den Umfang der öffentlichen Betriebe, den Fond für die Reserve und Akkumulation sowie die Zusammensetzung der öffentlichen Buchhaltung festlegen. Damit nehmen alle Produzent*innen und Konsument*innen Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung, ohne dass es eine wie auch immer geartete staatliche Einmischung in den wirtschaftlichen Verkehr geben müsste. Zum anderen soll nach dem Prinzip »Jede Stunde zählt gleich« verfahren werden. Unterschiede in der Vergütung der Arbeitsleistungen soll es keine mehr geben, um soziale Hie­­rarchien und ökonomische Diskriminierung zu verhindern. Wir haben es bei der Arbeitszeitrechnung also mit einer dezentralen Planwirtschaft zu tun, die für alle Teilnehmenden transparent und kontrollierbar bleibt. Dies vermeidet nicht nur betriebliche Misswirtschaft, sondern vor allem auch die Aneignung fremder Mehrarbeit durch Dritte, also letztlich Ausbeutung.

Link zum Blog des Vereins:
https://arbeitszeit.noblogs.org
Link zur Beta-Version der Arbeitszeitapp:
https://demo-app.arbeitszeitrechnung.org

Grafik: IDA

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