Müssen wir alles können?

Von »Ableismus« bis »Zentrum Selbstbestimmt Leben« und einer je eigenen Welt dazwischen reicht die »Sonderwelt« der Menschen mit Behinderungen. Wer darin eintaucht, stellt bald fest, dass sie weniger besonders ist als oft gedacht.

ARIANE DETTLOFF, REDAKTION KÖLN

»People are People« in all ihrer Verschiedenheit, ob blind, taub, körperlich oder geistig behindert oder mehr oder minder »normal«, betont Alito Alessi, der Begründer der Danceability-Bewegung für Behinderte und nicht Behinderte, in seiner Vorstellung dieser künstlerischen Praxis. Erst lange Jahre nach dem Tod seiner Mutter, die immer im Rollstuhl saß, hat Alessi realisiert, dass sie eine »Behinderte« gewesen ist. Und wer seinen spastisch gelähmten Tanzpartner Emery Blackwell sagen hört, jeder Mensch sei doch behindert, »am meisten die, die es nicht einmal merken«, fühlt sich eventuell ertappt. Gut so, denn so können wir für das Thema sensibilisiert werden. Selbstredend sind auch behinderte Menschen in Kollektiven und Kommunen betroffen. Aber, so die Erfahrungen von Markéta aus der Villa Locomuna in Kassel, ihre Einbindung in eine selbstorganisierte Gemeinschaft macht manches einfacher für sie (Interview Seite 9). Der Schwerpunkt kann angesichts der Vielfalt des Themas nicht anders als lückenhaft bleiben. Doch ein paar Schlaglichter vermitteln Einblicke, die vielleicht anregen, selbst weiter zu forschen, zu bedenken, Empathie zu entwickeln und Inklusion voranzubringen.

Selbstorganisierte Zusammenhänge Behinderter in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich sind mittlerweile zahlreich. Die In­­teressenvertretung Selbstbestimmt Leben e.V. (ISL/zsl), die Ellen Kuhn vorstellt, ist nur ein Beispiel von vielen, ebenso der Sommerblut e.V. in Köln. Die Geschichte der Behindertenbewegung in Österreich schildert eindrucksvoll Volker Schönwiese. Und was Ableismus ist, erläutert Keo aus dem Wendland.

Immer noch ist die Behinderten-Konvention der Vereinten Nationen in Deutschland erst unvollkommen umgesetzt. Das gilt für eine angemessene Teilhabe auf dem Arbeitsmarkt, in Bildungseinrichtungen, im Gesundheitswesen sowie für politische, gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe. Das Aktionsbündnis »Liga für Selbstvertretung« fordert deshalb, dass behinderte Menschen und ihre Organisationen »im Mittelpunkt der Weiterentwicklung der Behindertenpolitik stehen müssen, anstatt wie bisher meist diejenigen, die Geld an ihnen verdienen und aussondernde Einrichtungen betreiben«.

»Menschen mit Behinderungen spielen in der Politik und in den Medien immer nur dann eine Rolle, wenn sie als Opfer dargestellt werden können«, kritisiert Wiebke Schär von der ISL-Geschäftsführung. Und die Handlungsempfehlungen des »Kellerkinder«-Vereins von Menschen mit (seelischen) Behinderungen verlangen: »Unterstützungsangebote dürfen nicht dazu dienen, eine auf Leistungsdruck aufgebaute Gesellschaft zu kompensieren, ohne diese grundsätzlich zu hinterfragen und sie gemeinsam solidarisch, inklusiv und chancengleich umzugestalten!«

Selbstkritisch sei angemerkt: Auch wir als CONTRASTE-Redaktion haben »behindertenpolitisch« noch allerhand zu tun. So wäre eine Online-Version in leichter Sprache ebenso wünschenswert wie eine Audio-Version unserer Zeitung für Selbstorganisation. Leider fehlen uns (noch) die dafür nötigen Ressourcen.

Titelbild: Die Mad Pride-Parade beim Sommerblut-Festival in Köln 2019. Foto: Nathan Dreessen


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