Reisen mit den Ohren

Politische Proteste und Aktionen, wie die Besetzung des Dannenröder Forstes, sind für Außenstehende oft schwer zugänglich. Spezielle Mikrofone können die Stimmung dieser Orte und die Kämpfe, die Menschen an ihnen austragen, einfangen und auf neue Weise erlebbar machen.

Helene Jüttner, Berlin

Im Dezember 2020 wurden die letzten Baumhäuser im Dannenröder Forst geräumt, die letzten Bäume gefällt. Viele Monate lang hatten Aktivist*innen mit Protesten vor Ort versucht, die großflächigen Rodungen für den Anschluss der A49 zu verhindern. Das Kollektiv Eigenklang war am Tag der Räumung vor Ort und hat die Stimmung mit Hilfe ihrer portablen Aufnahmeausrüstung eingefangen. Entstanden ist dabei eine »Soundscape« (dt. »Geräuschumgebung«), die ein unmittelbares und unverstelltes Erleben der Situation ermöglicht:

Die Schritte, die auf dem feuchten Waldboden ein schmatzendes Geräusch erzeugen, fühlen sich an wie die eigenen. Eine Person spricht mit blecherner Stimme durch ein Megaphon, in einiger Ferne knattern Rotorblätter. Und obwohl Zeit und Ort der Aufnahme schon längst der Vergangenheit angehören, weiß man genau, in welche Richtung man den Blick lenken müsste, um nach dem Hubschrauber zu schauen. Das Knattern der Kettensäge und die Sprechchöre werden lauter, man nähert sich dem Geschehen. Plötzlich wird zur Linken eine Stimme aus der Masse sehr deutlich, man kann förmlich sehen, wie die Person vorbeigeht, weil zu hören ist, wie die Stimme erst lauter wird, um sich dann zu entfernen. Es ist verrückt, denn auf eine Art ist man vor Ort und hat einen konkreten Standpunkt, der eine physische Verbindung mit dem Geschehen herstellt. Trotzdem muss die Fantasie die Lücke füllen, die das fehlende Bildmaterial hinterlässt. Das Hören einer Soundscape ist mit einem merkwürdigen Gefühl der Fremdbestimmung verbunden, denn die Geräuschumgebung ist so realistisch, dass es sich anfühlt, als ginge jemand anderes mit dem eigenen Körper spazieren.

Das Einfangen einer Klangrealität

Diese Aufnahmen entstehen mit Hilfe sogenannter binauraler Mikrofonie. Für eine*n Hörer*in ergibt sich ein dreidimensionaler Eindruck, der das Gefühl hervorruft, unmittelbar am Ort der Aufnahme zu sein, denn beim Hören kann jedes Geräusch genau verortet werden. Dieser 3D-Sound entsteht, weil bei der Aufnahme berücksichtigt wird, dass die Anatomie des menschlichen Körpers das Hören beeinflusst. Die Form der Ohrmuscheln und des Gehörgangs, die Abschirmung von Schallwellen durch das Volumen des Schädels und die leichte Verzögerung, mit der Schallwellen je nach Richtung erst das eine und dann das andere Ohr treffen, verändern ein Hörereignis. Der Aufbau, um Ton auf genau diese Art einzufangen, ist denkbar simpel. Die zwei Mikrophone, eines für jedes Ohr, werden einfach in einen Kunstkopf eingesetzt, der über nachmodellierte Gehörgänge und Ohrmuscheln verfügt.

Mit der zunehmenden Portabilität des nötigen Equipments ergeben sich auch für binaurale Aufnahmen neue Möglichkeiten. Die speziellen Mikrophone sind mittlerweile nicht mehr an einen Kunstkopf gebunden, sondern werden mit speziellen Aufsätzen direkt auf die Ohrmuscheln der aufnehmenden Person gesetzt. Zusammen mit einem einfachen Aufnahmegerät kann eine Einzelperson eine beliebige Klanglandschaft vor Ort aufnehmen, zum Beispiel auf Demonstrationen oder im Wald.

Mit Hilfe eines solchen Setups setzt auch das Kollektiv Eigenklang seine künstlerischen Projekte um. Binaurale Aufnahmen, wie die oben beschriebene, stehen im Zentrum ihrer pädagogischen, künstlerischen und zum Teil auch politischen Arbeit. Zunächst entwickelte das Kollektiv ein interaktives Installationskunstwerk, das auf Festivals, Open Airs und verschiedenen Kulturveranstaltungen gezeigt wurde. Das Herzstück der Installation bildet ein mit Mikrofonen bestückter Kunstkopf. Was er aufnimmt, hören die Teilnehmer*innen in Echtzeit über Kopfhörer, ihre auditive Wahrnehmung wird so gleichgeschaltet. Doch nicht nur in Kunst und Pädagogik finden sich Anwendungsgebiete der binauralen Mikrofonie.

Zuhören bedeutet Partizipation

Protestorte wie der Dannenröder Forst sind für Außenstehende nicht besonders zugänglich. Was für Aktivist*innen zum Alltag gehört, können sich viele nicht vorstellen, sie werden diese Orte aus den verschiedensten Gründen nie persönlich erleben. Gesundheitliche Einschränkungen können ein Hindernis sein, genauso aber auch ökonomische Zwänge oder die Furcht vor juristischer Verfolgung. Menschen, die Vollzeit arbeiten müssen, haben selten Zeit, für mehrere Wochen in ein Baumhaus zu ziehen. Diesen Menschen ermöglicht eine Soundscape eine Form der Teilhabe, die sie direkt an den Ort des Geschehens bringt. Audioaufnahmen haben auch den Vorteil, dass die Persönlichkeitsrechte und die Anonymität der Aktivist*innen besser gewahrt werden können als bei Bild- und Videomaterial. Für den Erfolg von politischem Aktivismus ist es unabdingbar die Beweggründe, Aktionen und Inhalte für möglichst viele Menschen zugänglich zu machen. Die binauralen Aufnahmen des Kollektivs Eigenklang sind dabei keine klassische Form des politischen Aktivismus, leisten aber durch die künstlerische Aufarbeitung einen unterstützenden Beitrag, indem sie Aktionen und Proteste sichtbar und niedrigschwellig zugänglich machen. Die Verwendung einer besonderen Aufnahmetechnik verbindet sich mit einem künstlerischen Zugang zu politischen Protestaktionen. Es entsteht eine Form des medialen Aktivismus, die die Anliegen und Kämpfe der Aktivist*innen verständlicher und sichtbarer machen kann.

Das Kollektiv Eigenklang ist immer auf der Suche nach spannenden Projektorten, aktivistischen Camps und alternativen Gemeinschaften, um neue Soundscapes aufzunehmen. Bei Interesse gerne unter contact@kollektiv-eigenklang.com melden.

Link zur Soundscape aus dem Dannenröder Wald: https://bit.ly/3fXVZdV

(Damit die Aufnahme ihre volle Wirkung entfalten kann, bitte unbedingt mit Kopfhörern hören.)

Titelbild: Eine 360-Grad-Aufnahme aus dem Dannenröder Forst. Foto: Eigenklang Kollektiv

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