Reflexionen vom Platz in Lützerath

Oft werde ich gefragt, was Lützerath als Ort für mich bedeutet, jedoch schaffe ich es bis heute nicht die richtigen Worte zu finden. Der Titel einer Dokumentation über Lützerath »Ein toter Ort voller Leben« kann es bisher für mich noch am besten einfangen. Wirklich verstehen werden Menschen den Ort tatsächlich wohl erst, wenn sie selbst einmal da waren als Teil der bunt zusammengewürfelten Gemeinschaft.

Paula Sonntag, Lützerath

Es war später Sommer, als ich letztes Jahr in Lützerath angekommen bin. Damals hätte ich nie gedacht, dass ich ein Jahr später immer noch hier sein würde. Ich erinnere mich noch gut an die intensive Energie von Anfang an. Ich habe jeden Tag die verschiedensten Menschen kennengelernt, die alle das gemeinsame Ziel teilen, die Ausbeutung von Menschen und Natur nicht weiterhin still mit ansehen zu wollen. Dafür sind sie aktiv geworden. Für mich gab es so viel zu entdecken, zu lernen und zu organisieren. Die ganze Atmosphäre und die Hoffnung auf Veränderung haben mich beflügelt.

Ein Ort zum Kraftschöpfen

Viele Menschen, mit denen ich hier meinen Alltag verbringe, kannte ich vor Lützerath nicht. Dennoch ist der Ort in diesem Jahr für mich eine Art familiäres Zuhause geworden.

Die Stadt als Sinnbild für die kapitalistische Moderne hat ein System aus Individualismus und Entfremdung geschaffen. Viele kennen nicht einmal die Namen ihrer Nachbar*innen. Lützerath bietet hierzu ein Gegenmodell. Der Mensch in Lützerath ist ein soziales Wesen, das an diesem Ort seine Bedürfnisse wahrnehmen darf. Das ist vermutlich auch ein Grund, wieso viele Menschen aus diesem Ort so viel Kraft schöpfen. Wir gehen nicht sprachlos aneinander vorbei. Im Gegenteil: Für einen kurzen Weg benötige ich manche Stunde, weil ich immer wieder mit Menschen ins Gespräch komme. In diesen spontanen Treffen wird Mitmenschliches besprochen, aber auch politisch diskutiert, debattiert, organisiert, Ziele in den Blick genommen. In Form eines anarchistischen Miteinanders bilden sich auf diese Weise Einschätzungen, Standpunkte. Wir stimmen uns so spontan ab, was für die organisierten Plenen eine Art Vorlauf der Meinungsbildung ermöglicht.

Nicht nur das Gefühl einer bunten Gemeinschaft ist für mich und andere Menschen in Lützerath stärker, sondern auch, hier mehr ich selbst sein zu können. Als nicht-binäre trans* Person muss ich mich im alltäglichen urbanen Leben häufig rechtfertigen, manchmal sogar gegen Übergriffe zur Wehr setzen. Viele Menschen teilen mir ungefragt ihre diskriminierende Meinung zu meiner Geschlechtsidentität mit. In Lützerath begegnen wir uns respektvoll und unkommentiert. Das zeigt sich beispielsweise durch eine andere Sprache: keine binären Pronomen zu benutzen, gehört hier zum akzeptierten Sprachrepertoire. Beim Toilettengang muss sich niemand entscheiden, ob Mensch die »Männer«- oder »Frauen«-Toilette benutzt. Das sind kleine Beispiele für unser Alltagsleben, die Lützerath mich und andere als befreiend erleben lassen.

Mit Diskriminierung auseinandersetzen

In der Organisation ist Lützerath selbstverwaltet: Da gibt es eine Gruppe von Menschen, die tagtäglich mit gespendeten Lebensmitteln veganes Essen zaubert. Es gibt Gruppen von Menschen, die die Toilettenfässer leeren – und damit freiwillig den »Mist« anderer entsorgen. Es gibt Menschen, die andere kostenfrei von und zum Bahnhof transportieren. Es gibt Menschen, die Baumhäuser kunstfertig bauen, in denen andere wohnen und leben können. Dabei bringt jede Person das ein, was sie am besten kann. Da gibt es den ADHSler, der in der »normalen« Gesellschaft keinen Platz findet, als gelernter Elektriker aber musterhaft in Lützerath die Stromversorgung sicherstellt. Da gibt es die Organisationskünstler*innen, die Veranstaltungen für 200 Menschen entwerfen und deren Umsetzung steuern. Das sind nur einige wenige Beispiele für die Kompetenzen, die es vor Ort gibt, um Lützerath als sozialpolitisches Projekt am Leben zu erhalten.

Natürlich reproduzieren wir auch in Lützerath unser bisher Erlerntes. Wir haben Konflikte, sind manchmal verletzt und genervt und manchmal auch wütend aufeinander. Aber es wird wahr- und aufgenommen als Geschehen, mit dem Mensch sich auseinandersetzt. In Deutschland wachsen viele in einem rassistischen und männerdominierten System auf. Auch wenn die meisten Menschen nicht bewusst diskriminieren möchten: Sie haben diese Rahmenbedingungen verinnerlicht.

In Lützerath wurde ich mir darüber klar, wie sehr wir problematische Denkweisen in uns verinnerlicht haben und wir unbeabsichtigt Menschen verletzen. Wie wichtig es ist, unvoreingenommen zuzuhören. Zeitgleich habe ich verstanden, dass mein unbeabsichtigtes diskriminierendes Verhalten nicht zur individuellen Schuld erklärt, sondern im gemeinsamen Bewusstwerdungsprozess korrigierbar wird. Wir alle tragen Verantwortung, Lebensräume zu schaffen, die auf Solidarität und Respekt beruhen.

Eine Möglichkeit, das zu erreichen, ist, Berührungspunkte mit verschiedenen Menschen und Perspektiven zu schaffen. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich einen der älteren, sehr christlichen Menschen aus den umliegenden Dörfern mit einem auffällig schwarz gekleideten, linksorientierten Aktivisti sprechen sehe. Dieser Austausch ist genauso wichtig, wie die Vernetzung mit Menschen von Bewegungen aus anderen Orten der Welt.

Im Sommer vor einem Jahr war beispielsweise eine Delegation der zapatistischen Widerstandsbewegung in Lützerath. Dieses Jahr haben wir hier gemeinsam mit Kurd*innen im Mai das internationalistische Jugendfest gefeiert. Genauso wie Menschen aus aller Welt zu uns kommen, werden wir umgekehrt eingeladen, Orte des sozialpolitischen Widerstandes zu besuchen. Im Frühjahr 2022 schlossen sich Menschen aus Lützerath als Delegation der Karawane für das Wasser und des Lebens an, um unterschiedliche Orte des indigenen Widerstandes gegen Umweltzerstörung in Mexiko zu besuchen (CONTRASTE berichtete in den Ausgaben Nr. 452 und 453). Es ist ein globales von- und miteinander Lernen, ein essenzieller Schritt, um Veränderungen für ein besseres Leben für alle zu erreichen.

Wenn ich über Lützerath schreibe, kann ich nicht unerwähnt lassen, unter welch enormem Druck die Menschen hier tagtäglich stehen. Es ist nie einfach, die ständige Angst auszuhalten, geräumt zu werden. Polizeigewalt zu erleben ist dabei nicht das einzige Belastende (Polizist*innen in NRW sind leider nicht für ihre Freundlichkeit bekannt, sondern für ihre rechtsradikalen Netzwerke und die entsprechenden Verhaltensweisen).

Sinnbild für weltweite Zerstörung

Gerade im Winter war es meistens nass, kalt und dunkel. Dann ist es besonders herausfordernd, um vier Uhr morgens aufzustehen, um eine Nachtschicht für die Sicherheit des Dorfes zu leisten. In solchen Momenten finde ich es nochmals bemerkenswerter, dass alle aus Überzeugung hier sind und auch solche Aufgaben selbstverständlich übernehmen. Wir glauben fest daran, dass wir als Gemeinschaft die Stärke für Veränderung haben. Gerade wenn ich an die Zeit im Winter zurückdenke, verbinde ich damit Lebendigkeit und Tatendrang, trotz aller anstrengender Momente.

Für mich bleibt die größte Herausforderung, tagtäglich durch Austausch und Diskussionen an die vielen Ungerechtigkeiten und an die Zerstörungen in dieser Welt erinnert zu werden. Wir sehen jeden Tag dieses gigantische Loch durch den Braunkohleabbau – Sinnbild dafür, wie einige wenige Menschen von der Zerstörung des Zuhauses vieler Menschen und der Ausbeutung der Natur profitieren. Wir tauschen uns aus über Situationen von Menschen, die untragbar sind – und stellen uns diesen trotzdem mutig und gemeinschaftlich. Wir weichen nicht aus in die emotionale Bequemlichkeit. Vielmehr nehmen wir den Kampf auf, aktiv zu werden gegen Unrecht und Unterdrückung.

Die Konsequenzen der Klimakatastrophe, zu der RWE und die Kohleverbrennung erheblich beitragen, bekommen vor allem Menschen im globalen Süden zu spüren. Seit über einem Jahrzehnt müssen jedes Jahr etwa 20 Millionen Menschen ihr Zuhause verlassen. Viele müssen fliehen, weil sie nicht mehr ausreichend Essen und sauberes Wasser zur Verfügung haben – auch aufgrund der klimaschädlichen Geschäfte in Deutschland, hier am Beispiel der RWE.

Utopisches Denken lernen

Viele Menschen wissen nicht, was sie gegen ein über viele Jahrhunderte gewachsenes System der Ausbeutung von Natur und Menschen tun können. Bei den ganzen Ungerechtigkeiten in unserer Welt vergessen wir oftmals, dass wir gemeinsam eine Veränderung bewirken können. Mir persönlich hilft es, mir bewusst zu machen, was wir schon alles erreicht haben. Einige andere Dörfer, die ebenfalls abrissbedroht waren, oder Naturgebiete wie der Hambacher Wald sind bereits gerettet. Bei Lützerath werden wir es auch noch schaffen. Wo Unterdrückung und Ungerechtigkeiten präsent sind, gibt es auch immer Menschen, die Widerstand leisten und solidarisch füreinander einstehen. Wir gemeinsam haben die Macht, Dinge zu ändern. Und dafür steht Lützerath.

In Lützerath sprechen wir über Utopien, über andere, wünschenswerte Lebensweisen, einen positiven Umgang unter Menschen – und praktizieren im Kleinen, was wir uns im Großen wünschen. Wir haben hier einen Ort geschaffen, an dem sich verschiedene Möglichkeiten eines solidarischen Miteinanders praktisch erproben lassen. Wir lernen gemeinsam. Das ist zumindest ein Schritt in die richtige Zukunft und jede Person, die möchte, kann sich dafür entscheiden, Teil dieses Weges zu sein.

Links:
https://luetzerathlebt.info
https://mahnwache-luetzerath.org

Titelbild: Neuer Dorfplatz in Lützerath, auf dem die Plena und Veranstaltungen stattfinden und bei Regen auch gegessen wird. Foto: Redaktion Genossenschaften

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