Es sind immer noch vor allem Abwehrkämpfe, die geflüchtete Menschen hierzulande führen müssen. So wehren sie sich unter anderem gegen Abschiebungen, Residenzpflicht und die Lebenssituation in Sammelunterkünften. Doch in ihren Kämpfen schaffen die Geflüchteten neue, sichere Räume, um sich gegenseitig zu stärken.
Regine Beyss, Redaktion Kassel
»Niemand weiß besser, wo der Schuh drückt, als der, der ihn trägt«, zitiert Rex Osa ein bekanntes Stichwort. Osa hat 2010 den Verein »Flüchtlinge für Flüchtlinge« mitgegründet, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Plattformen für den Austausch von Geflüchteten untereinander zu schaffen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Selbstbestimmung der Betroffenen und ein Verständnis für kollektive Solidarität im Kampf gegen alle Formen von Diskriminierung. Außerdem soll der staatlichen Propaganda, die Geflüchtete als eine »Gefahr für die Gesellschaft« darstellt, die Perspektive der Betroffenen entgegengehalten werden.
Durch den Ukraine-Krieg hat sich dieser Diskurs scheinbar verschoben: Alle möglichen Hebel wurden in Bewegung gesetzt, um Geflüchteten aus der Ukraine ihr Ankommen in Deutschland zu erleichtern. So bekommen sie seit dem 1. Juni Leistungen aus dem regulären Sozialhilfesystem anstatt nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. »Das ist gut – andere Geflüchtete aber profitieren weiterhin nicht davon«, kritisiert Pro Asyl. »Auch geflüchtete Menschen aus anderen Ländern sollten ins Sozialhilfesystem integriert werden. Denn die Menschenwürde gilt für alle.«
Die Menschenwürde ist allerdings in vielen Fällen nicht die Leitlinie, an der sich die deutsche Asylpolitik orientiert. Das zeigt sich zum Beispiel in der Landeserstaufnahmeeinrichtung (LEA) in Freiburg, wo Geflüchtete tagtäglich mit Zimmer- und Taschenkontrollen, schlechtem Essen, Verboten und Isolation konfrontiert sind. Einige haben sich deshalb entschieden, gegen die Hausordnung der LEA zu klagen. Im Interview erzählen Ba, Emmanuel und Quasie, was sie dazu bewogen hat und was sie sich davon versprechen (Seite 12).
Einen solchen Schritt zu gehen, ist ein Wagnis, das viele Geflüchtete nicht eingehen wollen und können. Nicht zu unrecht machen sie sich Sorgen, dass sich politisches Engagement negativ auf ihre Bleibeperspektive auswirken könnte. Angst und mangelnde politische Erfahrung führen immer wieder dazu, dass die Betroffenen keine Möglichkeit sehen, etwas an ihrer Situation zu ändern, berichtet Rex Osa im Gespräch mit CONTRASTE (Seite 10). Doch das Netzwerk »Flüchtlinge für Flüchtlinge« bietet Unterstützung in Form von Beratung, Begleitung und regelmäßigem Austausch, um sich gegenseitig zu stärken und aktiv zu werden. Das führt mitunter zu so erfolgreichen Aktionen wie den »Whistles of Hope« in Osnabrück, wo Geflüchtete gemeinsam Abschiebungen verhindern konnten (Seite 11).
Auch die »Women in Exile & Friends« (Seite 9) setzen vor allem auf Empowerment. Seit 20 Jahren versucht der Verein mit Workshops, Demonstrationen und Veranstaltungen die Stimmen von geflüchteten Frauen* hörbar zu machen. Wichtig sind dafür neben der öffentlichen Wahrnehmung vor allem geschützte Räume, in denen sich die Frauen* austauschen können und merken, dass sie mit ihren Erfahrungen nicht alleine sind. Auf dieser Grundlage können sie politische Forderungen formulieren und auch ihre eigene Situation verbessern.
Damit größere gesellschaftliche Veränderungen möglich werden, müssen allerdings wir alle aktiv werden. Es sei notwendig, dass sich jeder Mensch seiner Privilegien und Möglichkeiten bewusst wird und diese nutzt, um Räume für eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen.
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