Pakistan: Frauenbewegung in Belutschistan

Die Ermordung eines belutschischen Jugendlichen hat in Pakistan eine Protestbewegung entzündet, die hauptsächlich von Frauen angeführt wird. Der Widerstand in Belutschistan erfährt hierzulande wenig Beachtung – dabei hat er eine jahrzehntelange Geschichte.

AK Asyl Göttingen

In Belutschistan gehen seit November 2023 Tausende von Frauen, deren Familienangehörige (meist Männer) von der pakistanischen Armee verschleppt wurden, auf die Straße. Sie liefen einen Protestmarsch von mindestens 1.600 Kilometer vom südlichen Kech-Distrikt nahe der iranischen Grenze bis nach Islamabad, der Hauptstadt Pakistans. Als der Protestmarsch Islamabad am 20. Dezember erreichte, wurde er von der Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern empfangen. Pakistans unabhängige Menschenrechtskommission und Amnesty International verurteilten das gewaltsame Vorgehen.

Die aktuelle Protestbewegung und der lange Marsch wurden ausgelöst durch die Ermordung des belutschischen Jugendlichen Balaach Mola Bakhsh in Turbat, dem Hauptort des Bezirks Kech, einer von militantem Widerstand geprägten Region. Er wurde von den pakistanischen »Anti-Terror-Kräften« CTD (Police Counter Terrorism Department) verdächtigt, Widerstandskämpfer (in Pakistan als »Terrorist« gelabelt) zu sein und daraufhin aus seinem Haus verschleppt. Ohne Gerichtsurteil, sondern noch in Untersuchungshaft wurde Balaach schließlich erschossen. Sieben Tage nach seiner Ermordung wurde er in Anwesenheit von tausenden Menschen beigesetzt. Noch nie in der Geschichte von Turbat hatte es ein solches Begräbnis gegeben. Balaachs Ermordung entfachte die Wut über die omnipräsente Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Repression gegen Belutsch*innen und führte zu anhaltenden Protesten in Turbat, die schließlich in den Protestmarsch mündeten. Der Protestmarsch und auch das anschließende Protestcamp in Islamabad wurden hauptsächlich von Frauen des Baloch Yakjehti Committee (BYC) angeführt, und es sind überwiegend Frauen, die ihre Stimme erheben.

Karte der politischen Gliederung von Pakistan. Quelle: Wikimedia Commona (CC BY-SA 3.0 DE)

Eine lange Geschichte der Unterdrückung

Viele Menschen haben sich dem langen Protestmarsch unterwegs angeschlossen oder die Marschierenden in den Dörfern mit Schlafplätzen und Essen versorgt. In Belutschistan wurde der Protest allgemein mit großer Solidarität unterstützt. Zwar war die Ermordung des jungen Balaachs Auslöser der Protestwelle, jedoch adressiert dieser Marsch eine Jahrzehnte lange Unterdrückungsgeschichte der belutschischen Menschen und ist Ausdruck einer kollektiven Wut und Frustration gegenüber der repressiven Politik des pakistanischen Staates gegen die belutschische Bevölkerung. Vor allem politisch Aktive sind alltäglich mit Gewalt konfrontiert: Unterdrückung, Folter, Entführung, Mord; ihre Familien erfahren kollektive Bestrafung durch die pakistanische Armee. All das zwingt viele Menschen ins Exil. Leider wissen viele europäische Linke nichts von diesem schon lange anhaltenden, kontinuierlichen Widerstand in Belutschistan.

Protestcamp in der Hauptstadt

Angekommen in Islamabad wurde ein großes Protestcamp errichtet, dem sich auch nach mehreren Wochen noch immer Menschen angeschlossen haben. Es kamen viele Familien, Angehörige und solidarische Personen zusammen, die fordern, dass sich endlich aktiv mit den vermissten Personen auseinandergesetzt wird. Viele der Demonstrant*innnen haben Angehörige, Kinder, Eltern, Geschwister oder Freund*innen, die von der pakistanischen Armee oder dem ISI (pakistanischer Geheimdienst) verschleppt wurden und seit Jahren vermisst werden.

Seitdem das Protestcamp in Islamabad besteht, reagiert der pakistanische Staat darauf mit Gewalt, Repression und Verhaftungen. Hunderte teilnehmende Aktivist*innen wurden festgenommen; auch Sprecher*innen und anführende Personen wie Mahrang Baloch. Sie sagte in »The Diplomat«: »Wir marschierten über 1.600 Kilometer und veranstalteten ein Sit-in, in der Hoffnung, dass das Problem gelöst werden würde. Als wir jedoch mit 300 Familien in Islamabad ankamen, mussten wir feststellen, dass der Staat weder bereit war, zuzuhören, noch daran interessiert war, das Problem der Vermissten anzugehen. Stattdessen ist er darauf vorbereitet, uns zu konfrontieren, anzuklagen und, wenn nötig, zu inhaftieren, weil wir friedlich protestiert haben.«

Diese beeindruckende Kraft und das Durchhaltevermögen der Aktivist*innen, die für die Freiheit Belutschistans kämpfen – und das seit Generationen – kommt nicht aus dem Nichts. Die Verschleppungen und das Verschwindenlassen (»Abduction«) von hauptsächlich belutschischen Männern reichen zurück bis in die 1970er Jahre. Doch seit Anfang der 2000er Jahre sind das gewaltsame Verschwindenlassen und »außergerichtliche« Tötungen (also Hinrichtungen ohne jegliche Gerichts­prozesse) zu einem Instrument der staatlichen »Aufstandsbekämpfungspolitik« in Belutschistan durch den pakistanischen Staat geworden. In diesen Jahrzehnten haben die betroffenen Familien der Vermissten zwar hin und wieder Mitgefühl, nie aber Gerechtigkeit erfahren.

Säkular und sozialistisch

Nach Angaben des HRCB (Human Rights Council of Balochistan), dem Menschenrechtsrat Belutschistans, werden täglich durchschnittlich mehr als zwei Personen entführt und getötet. Aus dem Jahresbericht für 2023 geht hervor, dass in Belutschistan 586 Menschen gewaltsam verschwunden sind und 504 ihr Leben verloren haben. Dafür werden vor allem das Frontier Corps (eine paramilitärische Einheit des Innenministeriums) und der Geheimdienst ISI verantwortlich gemacht.

Die Widerstands- und Befreiungsbewegung in Belutschistan geht quer durch alle gesellschaftlichen Schichten, von Menschenrechtsgruppen, über Studierendengruppen bis hin zu den Kämpfer*innen, die Belutschistan militant verteidigen. Um einige der politischen Widerstandsgruppen zu nennen: BSO Azad (Baloch Student Organization); BYC (Baloch Yakjehti Committee), BNM (Baloch Natio­nal Movement) – eine autonome politische Gruppe, die für die Unabhängigkeit Belutschistans kämpft –, BLF (Baloch Liberation Front) und BLA (Baloch Liberation Army) – der militante Arm der Befreiungsbewegungen. Ähnlich wie in Kurdistan ist auch die Befreiungsbewegung in Belutschistan eher säkular und sozialistisch geprägt.

Nicht nur in Belutschistan selbst kämpfen Menschen um Autonomie und Befreiung, sondern auch Aktivist*innen, die ins Exil gezwungen wurden und somit weltweit verteilt sind. Auch im Ausland schweben sie in ständiger Gefahr, werden vom pakistanischen Geheimdienst überwacht und einige, wie zum Beispiel Karima Baloch und Sajid Hussein, sogar ermordet. Ihre Todesfälle ereigneten sich beide im Jahr 2020 in Kanada und Schweden.

Zu wenig Berichterstattung

Auffällig ist, wie wenig in den westlichen Medien über die Situation in Belutschistan und insbesondere diesen Widerstand berichtet wird. Belutschistan gilt als »Armenhaus« Pakistans, obwohl dort immense Bodenschätze liegen. Allerdings bekommt die dortige Bevölkerung davon nichts zu spüren. Stattdessen arbeiten selbst Kinder unter mise­rabelsten Bedingungen in den Kohleminen Belutschistans. Pakistans diktatorische Regierung hält alle Informationen zurück und unterhält beste Beziehungen zu China, aber auch zu den westlichen Staaten. Die geostrategische Bedeutung Pakistans wächst nicht erst, seit China mit dem Bau der »neuen Seidenstraße« begonnen hat. Sie führt quer durch Belutschistan bis zur Hafenstadt Gwadar, das China zu einem Tiefseehafen ausgebaut und durch die Kontrolle des Fischfangs die gesamte einheimische Fischerei zum Erliegen gebracht hat. Für den Bau werden ganze Ortschaften zerstört und die ansässige Bevölkerung vertrieben – auch davon ist in den westlichen Medien kaum etwas zu lesen. Da China eigene Arbeiter*innen in die Region bringt, hat die ansässige Bevölkerung nichts vom Bau der Neuen Seidenstraße. Auch zu den verheerenden Überschwemmungen im letzten Jahr, die zu einem Großteil Belutschistan getroffen und katastrophale Auswirkungen auf die Bevölkerung hatten, gab es hier höchstens eine mediale Randnotiz.

Der lange Marsch zeigt eine neue Qualität des belutschischen Widerstands. Die Belutsch*innen, die den Marsch angeführt haben, leisten trotz aller Gewalt, Repression und Bedrohungen Widerstand. Der lange Marsch wird auch in großem Umfang von anderen unterdrückten Bevölkerungsgruppen in Pakistan unterstützt, darunter die paschtunische Tahafuz-Bewegung. Auch hat der lange Marsch erstmals zumindest in begrenztem Umfang Unterstützung im Punjab (Großregion in Pakistan und Indien) erhalten.

Die Welt brennt durch imperialistische Kriege und ihre globalen Zwangs­ökonomie, welche die Zerstörung der Lebensgrundlagen von Millionen von Menschen und deren Umwelt, vor allem im globalen Süden, verursacht. Doch in den westlichen Medien gehen Verbrechen wie sie in Belutschistan, Kurdistan, Sudan oder Palästina passieren, einfach unter. In allen Kriegen und Konflikten sind vor allem Frauen der Realität der Gewalt doppelt ausgesetzt.

Wir müssen uns damit auseinandersetzen, was das für uns als internationalistische Linke bedeutet! Es gilt, in den Basisbewegungen einen historischen Umbruch der Aufstände zu erkennen, der seit Jahren vor unseren Augen in Belutschistan, Kurdistan und so vielen weiteren Orten unserer Welt passiert und nicht wahrgenommen wird.

Titelbild: Frauen führen die aktuellen Massenproteste in Belutschistan an. Foto: Baloch Yakjheti Committee


Der AK Asyl Göttingen ist eine seit über 40 Jahren existierende antirassistische Gruppe, die vor allem zu den Themen Asyl, Migration, Rassismus und Internationalismus arbeitet. Um den AK gibt es einige Bündnisse gegen Abschiebungen und Rassismus sowie internationalistische Netzwerke, die viel und aktiv im Austausch mit Betroffenen sind. Wir versuchen, diese Geschichten aus der Unsichtbarkeit zu holen und gemeinsam mit Betroffenen zu überlegen, wie Themen öffentlich und skandalisiert werden können.

Kontakt: akasylgoe@emdash.org

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