Pandemie, Krieg, Aufrüstung, Inflation und Energiekrise – die Lage für Einkommensarme ist miserabel. Die Kosten steigen, der Regelsatz wurde ab Januar 2022 um ganze drei Euro auf 449 Euro für einen Alleinstehenden angehoben. Zugleich wird an einem Gesetz für ein neues Bürgergeld gebastelt, das das Hartz IV-System ablösen soll – ohne dass eine Erhöhung des Regelsatzes geplant ist und auf Sanktionen verzichtet werden soll. Druck von der Straße ist dringend notwendig, aber kaum vorhanden.
Anne Seeck, Berlin
Einkommensarme sind von der Corona-Krise besonders betroffen. Das Virus kann für viele von ihnen wegen der Häufung bestimmter Vorerkrankungen äußerst gefährlich werden und die jetzige Politik der Durchseuchung bedroht sie in hohem Maße. Während viele Wohlhabende aufgrund von Reisen das Virus in ihre Heimatländer einschleppten, wurden Einkommensarme teilweise in ihren Wohngebieten isoliert. Was die Mittelschicht während der Lockdowns schmerzlich vermisste, ist für Einkommensarme der Normalzustand – sie können kaum reisen, sie können keine teuren Restaurants oder Konzerte besuchen. In der Corona-Krise kamen auch zusätzliche Kosten auf Einkommensarme zu – für Hygieneartikel, Masken, Tests etc. Viele soziale Einrichtungen waren dagegen geschlossen, wie Sozialkaufhäuser oder Lebensmittelausgaben. Erst im Mai 2021 wurde ein einmaliger Corona-Zuschlag von 150 Euro an Grundsicherungsbezieher*innen ausgezahlt.
Als nächstes Debakel folgte dann eine hohe Inflation, das heißt die Preise zum Beispiel für Lebensmittel und manches andere stiegen drastisch an. Der Ukraine-Krieg bildet die nächste Katastrophe. Die Kriegsstimmung wird genutzt, um militärisch aufzurüsten. Es wurde ein »100 Milliarden-Euro-Paket« für die Bundeswehr geschnürt, das zu Einsparungen in anderen Bereichen führen wird. Aber das ist nicht alles, die angekündigte Energiekrise wird die Strom- und Gaspreise in die Höhe treiben, sodass viele Einkommensarme sie nicht mehr bezahlen können. Es wurde ein Entlastungspaket vereinbart: Grundsicherungsbezieher*innen sollen einen Zuschlag von einmalig 200 Euro bekommen, von Armut betroffene Kinder 20 Euro monatlich. Das wird nicht reichen. In dieser schwierigen Gesamtlage wird nun ein Gesetz für ein neues Bürgergeld erarbeitet. Im Entwurf zum Bundeshaushalt findet sich allerdings kein Wort zu »Sozialreformen«, zur Kindergrundsicherung und dem Bürgergeld.
Das neue Bürgergeld
Laut Koalitionsvereinbarung will die Bundesregierung (SPD/Grüne/FDP) Hartz IV durch ein sogenanntes Bürgergeld ablösen. Dabei wird viel Sprachkosmetik betrieben: So soll aus der »Eingliederungsvereinbarung« eine »Teilhabevereinbarung« werden – damit alles »auf Augenhöhe« mit »ganzheitlicher Betreuung« und dem Ziel der Integration in Arbeit ablaufen kann.
Wie es wirklich um diese Parteien bestellt ist, bewiesen sie bei einer Abstimmung im Bundestag. Die Linkspartei forderte den Bundestag auf, bei der jährlichen Anpassung der Hartz-IV-Sätze zumindest die Preissteigerung bei Lebensmitteln und anderen Grundbedarfen, wie zum Beispiel Energie, auszugleichen. Der Antrag der LINKEN mit dem Titel »Existenzminimum sichern – Inflationsausgleich bei Regelsätzen garantieren« wurde von diesen Parteien abgelehnt. Trotz der Preissteigerungen wurde keine Solidarität mit den Betroffenen geübt.
Das Bürgergeld ist besonders dafür zu kritisieren, dass keine Erhöhung des Regelsatzes vorgesehen ist und weiterhin Sanktionen drohen sollen. Positiv ist dagegen, dass die Ampelregierung den Vermittlungsvorrang abschaffen will. Leistungsberechtigte werden durch vollqualifizierende Ausbildungen und einen Weiterbildungsbonus gefördert.
In den ersten zwei Jahren soll das Vermögen nicht aufgezehrt werden müssen und die Wohnung wird bezahlt, egal wie groß und teuer sie auch sein mag. Es sollen die Zuverdienstmöglichkeiten ausgebaut werden, was für die Betroffenen hilfreich sein kann, aber eher zum Ausbau des Niedriglohnsektors führen wird. Denn ein Großteil der Hartz IV-Beziehenden ist bereits erwerbstätig.
Harald Thomé von Tacheles e.V. fragte in einem Interview mit dem »Spiegel«: »Aber wie soll sich jemand sozial stabilisieren, wenn das Geld nicht mal fürs Essen reicht? Wie soll jemand stabil werden, der Angst haben muss, durch zum Teil sogar noch rechtswidrige Sanktionen in seiner Existenz angegriffen zu werden?«
Natürlich sind auch Jobcenter-Mitarbeitende ein Problem. Thomé: »Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen repressivem Verwaltungshandeln und der Finanzlage der Kommune.« Es gibt Jobcenter-Mitarbeitende, denen es völlig egal ist, was mit den Leuten geschieht, ob sie untergehen, ob sie ihre Wohnung verlieren oder sonstige Probleme haben. Betroffene werden oft mit einem Kasernenton in den Behörden konfrontiert, es fehlt an Freundlichkeit und Empathie. Hartz IV-Beziehende werden unter Generalverdacht des Sozialmissbrauchs gestellt. Nach jahrelanger Stigmatisierung sollen sie jetzt darauf vertrauen, dass sich etwas zum Besseren ändert?
Wo bleibt der linke Protest?
Jetzt müsste es einen Kampf um einen höheren Regelsatz und gegen Sanktionen geben. Die Linkspartei konzentriert sich aber auf das Thema »working poor«, und in der außerparlamentarischen Linken bewegt sich diesbezüglich kaum etwas. Es scheint, als habe sich die Linke mit Hartz IV und Armut abgefunden, denn Protest gegen diese Zustände gibt es kaum.
Es gibt vereinzelte Kritik, sei es von Harald Thomé von Tacheles e.V., Ulrich Schneider vom Paritätischen, dem Sozialmediziner Gerhard Trabert oder der Initiative »Sanktionsfrei«. Und auch der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge stellt fest, dass die Armut nicht bekämpft werden kann, wenn der Reichtum nicht angetastet wird. Ohne verschiedene engagierte Sozialverbände, Initiativen, Wissenschaftler*innen und andere Einzelpersonen hätten Einkommensarme überhaupt keine Lobby. Wir brauchen aber jetzt eine starke soziale Bewegung, die sich einmischt und sich nicht von der Sprachkosmetik der regierenden Parteien über den Tisch ziehen lässt. Diese Gefahr sehe ich allerdings auch bei einigen Sozialverbänden.
Meines Erachtens ist die Linke – wie wir übrigens alle – selbst neoliberalisiert. In der Leistungsgesellschaft will niemand ein Looser sein, Aktivismus und berufliches Fortkommen vermischen sich zusehends. Mit diesem Armuts-Thema will kaum jemand etwas zu tun haben, auch weil viele aufgrund ihrer sozialen Herkunft davon nicht betroffen sind, wenn sie auch noch so prekär arbeiten. Zudem gibt es in diesem Bereich auch nicht so viele attraktive Arbeitsfelder wie in anderen Bereichen, zum Beispiel der Flüchtlings- oder Wohnungslosenhilfe. Viele Linke wollen anscheinend mit Einkommensarmen nur etwas zu tun haben, wenn sie dafür bezahlt werden – als Sozialarbeiter*innen, Politiker*innen, Journalist*innen und Wissenschaftler*innen. Aber vielleicht versucht sich jede/r auch nur selbst zu retten – manchmal auch in Kollektiven – wie sie auch in der CONTRASTE präsentiert werden. Hoch im Kurs steht auch das Organizing in der linken Szene. Damit habe ich in einer Initiative keine guten Erfahrungen gemacht, denn die Methode wirkte auf mich sehr paternalistisch und ihre Grundlagen wurden noch nicht einmal transparent gemacht: Eine Initiative als Versuchslabor. Selbstorganisation von Betroffenen ist etwas anderes.
Hürden der Betroffenenorganisierung
Die Armutsbetroffenen kämpfen mit Existenzängsten und ihren alltäglichen Sorgen. Aber nicht nur Ängste, auch Schamgefühle wegen der Nichterfüllung gesellschaftlicher Normen breiten sich wie ein Virus unter den Einkommensarmen aus: »Ich bin ein Kostenfaktor« oder »Ich funktioniere nicht«. Bei vielen Betroffenen machen sich Resignation und Fatalismus breit. Voraussetzung für Sozialprotest ist aber ein Vertrauen in die Veränderbarkeit des Bestehenden, es braucht Hoffnung. Zum Glück gibt es auch Eigensinn und Widerstandstypen, die Harald Rein im Rahmen seiner Beratungspraxis in einem Frankfurter Arbeitslosenzentrum ausgemacht hat: die »Überlebenskünstler*innen und Erwerbsarbeitsdissident*innen«, die »selbstbestimmten BezieherInnen von Sozialleistungen« und die »Freiraumschaffer*innen«. Letztere nutzen die finanziellen Transferleistungen, um in anderen gesellschaftlichen Bereichen politisch aktiv zu werden oder anderen nützlichen Tätigkeiten nachzugehen. So beschreibt es Rein in seinem Buch »Wenn arme Leute sich nicht mehr fügen…!« aus dem Jahr 2017. Die Lektüre des Buches »Die Elenden« von Anna Mayr, die aktuell als Arbeitslosen-Expertin gehandelt wird, zeichnet wiederum ein anderes Bild von Erwerbslosen, diese sind demnach »ein Nichts«: »Wer nicht arbeitet, dessen Leben ist sinnlos. Wer nicht arbeitet, der ist nichts, denn er hat ja keinen Beruf. Wenn aber Arbeit dem Leben einen Sinn gibt, dann bedeutet Nicht-Arbeit, dass man gesellschaftlich bereits tot ist.« Erwerbslosenproteste werden in diesem Buch in ein paar Zeilen abgehandelt, Initiativen wie »Die glücklichen Arbeitslosen« oder »Die Hängematten« gab es demnach nicht, auch nicht Publikationen der Gruppe Krisis wie »Das Manifest gegen die Arbeit« oder »Dead men working«. Auch nicht den Kongress »Anders arbeiten oder gar nicht« oder den Existenzgeldkongress. Proteste, Debatten und Texte werden in dem Buch von Anna Mayr ignoriert. Wir waren schon mal weiter.
Zum Glück gibt es aber eine Klassismus-Debatte, aktuell ist das Buch: »Zugang verwehrt. Keine Chance in der Klassengesellschaft: wie Klassismus soziale Ungleichheit fördert« von Francis Seeck erschienen, dass einen guten Überblick über die Klassismus-Debatte gibt. Außerdem versuchen wir gerade im Stadtteilladen Lunte in Berlin-Neukölln einen Raum für Austausch und Gegenwehr zur sozialen Frage zu schaffen – Menschen mit Niedriglöhnen, niedrigen Renten und Grundsicherungsbezieher*innen zusammenzubringen.
Titelbild: Mit einer Protestaktion vor dem Reichstag demonstrierte am 26. Februar 2021 ein Bündnis von fast 50 Organisationen, darunter Campact, gegen die unzureichende Nothilfe für die Ärmsten
in der Corona-Pandemie. Foto: Paul Wagner / Campact
Veranstaltung am Montag, 20. Juni, um 19 Uhr in der Lunte, Weisestr. 53, Berlin–Neukölln: »Grundsicherung: Inflation, Energiekosten und ein Bürgergeld in Planung«