Mehr als die Summe seiner Teile

Da es bei Fahrwerk (FW) keine*n Chef*in gibt, entfällt die Weisungsbindung, die einzelne Personen dazu zwingt, etwas zu tun. Doch natürlich ist es im Tagesgeschäft fatal, sich der Anweisung der Disponierenden zu widersetzen. Überleben im Kurier*innengeschäft doch nur die Firmen, die es am besten verstehen, die Flut an spontan hereinkommenden Aufträgen erst zu generieren und im Folgenden zu managen; sowie Krankmeldungen, Unfälle und technisches Versagen des Equipments in einen geordneten Arbeitsfluss umzuformen. Denn das ist das wahre Gesicht des Geschäfts.

Simon Richter, FW-Kurierkollektiv Berlin

Durch den weitestgehend hierarchiefreien Aufbau des Kollektivs bedarf es des eigenen Antriebs jede*r Einzelnen, die Arbeit auf so einem professionellen Niveau zu erledigen, dass sie Geld abwirft und für alle nicht dauerhaft frustrierend ist. Denn seien wir mal ehrlich: Der frühe Enthusiasmus scheitert doch nur all zu gerne am harten Asphalt der Realität.

Es geht also um Werte, in moderner Unternehmenssprache auch »Core Values« genannt. Aber diese Werte sind sinn- und zwecklos, wenn sie nicht gelebt werden. Werte zu leben, bedeutet eine Kultur zu pflegen. Diese gibt es natürlich auch in einem klassischen Familienbetrieb. Hier wäre jedoch ein kleiner Personenkreis für diese Kultur verantwortlich, hätte sie Jahre lang unter sich ausgemacht und auch die Mitarbeiter*innen danach auswählt. Kultur, die jedoch nicht vorgegeben und dennoch gelebt werden will, wird jeden Tag verhandelt. Was zu Recht erst einmal anstrengend klingt, weil es sehr viel Selbstengagement voraussetzt, wird mit der Zeit zur neuen Selbstverständlichkeit, wenn mensch gelernt hat, den Schlüssel zu benutzen und sich vor dem Knacken im Schloss nicht mehr zu fürchten.

Lebenselixier Kommunikation

Das Verhandeln als Tätigkeit, also die Kommunikation, ist das Lebenselixier des Kollektivs, denn lauter Individuen, die auf Anweisungen warten oder noch schlimmer, die alle Anweisungen geben, sind keine arbeitsfähige Gemeinschaft. Um beide Extreme und eine durch Frust entstehende Hierarchie zu vermeiden, bedarf es also mehrerer Dinge, von denen hier besonders eines betrachtet werden soll: Die Erhöhung der Kommunikation und ihrer »Good Practice«. Selbstverständlich sind auch noch weitere Faktoren wie zum Beispiel gleicher Lohn und das Herabsetzen von Wissenshierarchien essentiell.

Bei der Kommunikation jedoch, bedingt das Eine das Andere. Es geht um einen Austausch auf Augenhöhe und um die Wertschätzung der Arbeit jede*r Kollektivistin. So ist es vor allem wichtig, den Menschen zu sehen und ihn von der Verwertungslogik der Arbeit zu entkoppeln. Im Falle von FW ist dies immer sehr direkt, durch die Kommunikation über Funk. So bekommen stets alle Kolleg*innen sofort mit, was gerade los ist und versuchen, wo es geht, zu helfen. Ein großer Teil der gelebten Kultur ist also das »Sich-gegenseitig-schätzen« und »Aufeinander-verlassen-können«. In der Sicherheit, dass die geleistete Hilfe frei von Wertung ist und dadurch am nächsten Tag, ebenso wertfrei, bei einem anderen Problem zurückfließt. Dies ermöglicht das schnelle Lösen einfacher und das langfristige Lösen komplexerer Probleme. Wertfrei ist dabei als Wertung, die frei von persönlicher Kritik ist, zu verstehen. Natürlich ist das Bewerten ein essentieller Teil der Kommunikation und macht diese erst intelligent. Aber eben als produktives Feedback, ohne die Reduzierung der Person auf ein wirtschaftliches Subjekt.

Foto und Titelbild: Fahrwerk Kurierkollektiv

Die banale Erkenntnis, dass die Verdichtung der Kommunikation die Kultur pflegt und fördert, die Kollektivintelligenz massiv erhöht und Feedback nicht als Kritik an der eigenen Person zu verstehen ist, ist meist ein mehrmonatiger, wenn nicht gar Jahre andauernder Prozess, indem die aufgezwungene Wertelogik des Marktes und die preußische Unterordnungsdoktrin der Gesellschaft dem freien kreativen Geist langsam wieder Platz machen.

Aus der wertfreien, unterstützenden Kommunikation mit dem Kollektiv ändert sich die Selbstwahrnehmung und damit das Sein. Sie ist also die intelligente Methode und bildet gleichzeitig die gelebte Kultur, durch die sich die Leute wohl fühlen und bleiben. Die Werkzeuge, derer sich Fahrwerk, »das Kommunikationskollektiv«, dabei bedient, sind klassisch bis modern.

Fester Rahmen für AGs

Der tägliche Einsatz der Smartphones beschränkt sich nicht auf die Auftragsdaten-App. Jedes Mitglied hat einen weiterentwickelten Sofort-Nachrichten-Dienst auf seinem Smartphone und Computer. Dieser Dienst ermöglicht besonders gut den Austausch in Arbeitsgruppen (AGs), die das Rückgrat des täglichen Geschäfts bilden. Von der Buchhaltung über die Lastenradtechnik, IT und Personal, verfügen wir über insgesamt zwölf AGs, die den verschiedenen Abteilungen in großen Betrieben entsprechen. Für die erfolgreiche AG-Arbeit ist immer ein definierter Rahmen wichtig. Selbstorganisiert bedeutet nämlich nicht, dass sich die Dinge schon von alleine regeln.

Zur internen Kommunikation benutzt das Kollektiv »Slack«, das unter anderem mit automatisierten Erinnerungen arbeitet. Die Kollektivist*innen können sich gegenseitig direkt ansprechen, Teilaspekte von Aufgaben herausgreifen, bearbeiten und zurückspielen. So entstehen Lösungen, an die vorher vielleicht gar nicht gedacht wurde.

Derlei Raffinesse der digitalen Möglichkeiten haben das Plenum allerdings noch nicht ersetzt. Im Gegenteil, oft wird aus einer Diskussion im Büro, eine virtuelle Abwägung im Kollektiv und damit eine Plenumsentscheidung vorbereitet. Das einmal monatlich stattfindende Plenum ist mit AG-Berichten gefüllt. Dadurch werden alle Kollektivist*innen auf den selben Wissensstand gebracht. Die Aufgabe der AGs ist es, die Informationen aufzuarbeiten und zu treffende Entscheidungen vorher mit Pro- und Contra-Argumenten zu unterlegen, sodass eine zielführende Diskussion stattfinden kann. Darüber hinaus leistet sich FW einmal im Jahr sein Perspektivplenum. Hier werden langfristige Themen bearbeitet, die den unmittelbaren Arbeitsablauf nicht betreffen.

Auch wenn das monatliche Plenum für das tägliche Geschäft wichtiger ist, ist das Perspektivplenum unser größtes und nachhaltigstes Werkzeug. Hier wird die betriebsinterne Kultur in Reinform gelebt. Jedes Kollektivmitglied steht hier ganz persönlich mit den Fragen »Wie geht es dir? Wie geht es dir mit Fahrwerk (mit uns)?« und »Wie ist deine Perspektive für die Zukunft?« im Fokus. Auf keinem anderen Plenum kommen so viele Fahrwerker*innen zusammen. Die hierdurch erzeugte Kommunikationsdichte ist maximal. Treffen die bearbeitenden Thematiken FW doch tief ins Herz. Es wird das Manifest, Werte, niedergeschrieben, neue Ziele gesteckt und Strategien erarbeitet.

Die hier erzeugte Intelligenz schafft neue, viele gute Ideen und ist zugleich gelebte Utopie einer neuen Arbeitswelt und solidarischen Gesellschaft.

Link: www.fahrwerk-berlin.de/wp

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