Wohnen als Menschenrecht – gestern und heute

Bau- und Wohnungsgenossenschaften sind auch bei jüngeren Menschen wieder ein Thema. In den letzten Jahren wird ein Aufschwung von Genossenschaftsgründungen in Deutschland festgestellt. Der Verband bayerischer Wohnungsunternehmen spricht von einer regelrechten »Gründungswelle«. Manche sprechen von einer Renaissance der Genossenschaftlichkeit oder gar von einem neu entflammten Wunsch nach Kollektivität. Die Idee der Genossenschaft ist brandaktuell – und uralt. Unsere Autorin blickt zurück auf ihre Familiengeschichte in der Schweinfurter Gartenstadt.

Gisela Notz, Berlin

In den schnell wachsenden Industriestädten am Ende des 19. Jahrhunderts waren die Straßen meist eng bebaut mit mehrstöckigen, dunklen, feuchten und verwahrlosten Mietskasernen mit mehreren Hinterhöfen, winzigen Wohnungen ohne Bad und mit Toiletten auf dem Hof. Die Eigentümer machten sich die zunehmende Wohnungsnot zu Nutze und »pferchten« möglichst viele Menschen in ihren Häusern zusammen. Auch die Arbeiterquartiere in der Schweinfurter Innenstadt waren überfüllt, dunkel, ungesund. Mein Großvater war von einem kleinen fränkischen Winzerdorf in die Industriestadt Schweinfurt gezogen, um in einem der drei metallverarbeitenden Großbetriebe als Fabrikarbeiter einen kärglichen Lohn zu verdienen. Seine Lehre als Büttner war in der Kugellagerfabrik, in der er über 50 Jahre verbrachte, nichts wert. Die Großeltern bekamen drei Kinder und sie erzählten oft von der engen, teuren Wohnung in der Innenstadt, in der sich die kleinen Kinder kaum bewegen durften.

Zu dieser Zeit gründeten sich in vielen Städten Wohnungsbaugenossenschaften, die sogenannte Gartenstädte bauten, um das Spekulantentum durch den Bau von bezahlbaren Wohnungen »für den kleinen Mann und seine Familie« zu unterlaufen. Unterstützt wurden sie oft von wohltätigen Bürger*innen. Architekten entwarfen Zukunftsstädte, meist am Stadtrand. Mit Ställen und Gärten sollten sich die Bewohner*innen selbst versorgen, die Finanzierung sollte genossenschaftlich erfolgen, ohne Spekulation und Mietwucher.

Eine solche Idee stand hinter der Gründung des Bauvereins Schweinfurt und Umgebung e.GmbH am 31. Juli 1917, mitten im Ersten Weltkrieg. Auf Einladung des damaligen Bürgermeisters fand die konstituierende Sitzung statt, auf der die Gründung einstimmig beschlossen, der Aufsichtsrat gewählt wurde und dem Eintrag ins Genossenschaftsregister nichts mehr im Wege stand. Mein Großvater war dabei und musste wie jeder Genosse einen Geschäftsanteil für 200 Mark erwerben – das war viel Geld für einen Fabrikarbeiter, der einen Stundenlohn von 60 Pfennig verdiente.

Zunächst wurden 36 Einfamilien-Häuschen gebaut, die an Mitglieder verlost wurden. Zu den Glücklichen der ersten Stunde zählte mein Großvater. 1920, ein Jahr nach der blutigen Niederschlagung der Räterepublik – auch in Schweinfurt hatte sich am Abend des 8. Novembers 1918 ein Arbeiter- und Soldatenrat formiert – konnten die Häuser in der (damaligen) Legienstraße, Vollmarstraße und Karl-Marx-Straße bezogen werden. Die Familie bezahlte eine Miete von 29 RM im Monat. Im Haus war Platz für Wohnküche, Waschküche, Speisekammer; drei kleine Zimmer und eine Kammer, dazu Keller und Dachboden; insgesamt 90 qm Wohnraum.

Zum Wasserklosett (!) musste man über die Waschküche nach außen gehen. Für die damalige Zeit waren die Häuser gut ausgestattet. Ein Hausanbau diente der Kleintierhaltung, ein großer Gemüse- und Obstgarten der Selbstversorgung. Ohne diese Subsistenzwirtschaft hätte mein Großvater die Familie nicht ernähren können.

Eine solidarische Gemeinschaft

Die Gartenstadt war mehr als ein »Kind der Not«. Die Idee ging über die Versorgung mit preisgünstigem Wohnraum hinaus. Die Genossen kamen meist aus der Arbeiterbewegung, sie waren klassenbewusste Arbeiter. Sie gehörten der SPD oder wie mein Großvater der USPD an, waren im Metallarbeiterverband aktiv, auch Kommunisten und Anarcho-Syndikalisten kamen dazu. Viele waren Freidenker, trieben Sport bei den Freien Turnern, beim Radfahrerbund Solidarität, gingen wandern und schwimmen und feierten Lampionfeste im Garten. Die Bewohner*innen der Gartenstadt stellten eine solidarische Gemeinschaft dar, standen zusammen und halfen einander.

Die Wohngenossen fühlten sich dem Grundgedanken aller Genossenschaften verpflichtet: »Was der Einzelne nicht vermag, das vermögen viele«, den Prinzipien der solidarischen Selbsthilfe und der demokratischen Selbstverwaltung. Mein Großvater war zwischen 1925 und 1933 im Aufsichtsrat der Genossenschaft. Nun wurden mehrere Mehrfamilienhäuser gebaut und ein Ladengeschäft für den Konsumverein Schweinfurt e.G. Der Bauverein expandierte.

Gleichschaltung durch NSDAP

Mit der Machtergreifung der Nazi-Faschisten 1933 sollte auch die Genossenschaft gleichgeschaltet werden. Danach durften an ihrer Spitze nur »der nationalen Regierung nicht entgegenstehende« Personen tätig sein. Am 7. Juni 1933 wurde eine außerordentliche Generalversammlung einberufen. Die zum Rücktritt gezwungenen bisherigen Aufsichtsratsmitglieder – darunter auch mein Großvater – wurden, anders als die Nazis das wollten, wiedergewählt. Die von der NSDAP vorgeschlagenen Kandidaten unterlagen. Einen Monat später wurden alle gemeinnützigen Wohnungsunternehmen der Weisung des Reichsministeriums unterstellt. Daraufhin wurde für den 24. Oktober 1933 eine neue Versammlung anberaumt, bei der nur noch Kandidaten der NSDAP zur Wahl standen, so dass der Bauverein anschließend gleichgeschaltet war. Mein Großvater hat das den »gewendeten« Genossen nie verziehen. Sie hätten gehandelt nach der Maxime: »Dann häng‘ ich mein Mäntelchen nach dem Wind«. Das sollten seine Kinder und Enkel niemals tun.

Gartenstadt, Josef-Säckler-Str. 1-5, von der Strasse aus gesehen. Foto: Roland Keinholz

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Verwaltung zunächst kommissarisch geführt, bis die (meist) sozialdemokratischen Genossen wieder Vorstand und Aufsichtsrat übernahmen. Alle Straßen in der kleinen Siedlung wurden nach bekannten Schweinfurter SPD und USPD-Politikern umbenannt, nachdem die Nazi-Straßenschilder entfernt waren. Die Bezeichnungen von vor 1933 wurden nicht mehr rekonstruiert. Ab 1952 wurden Sohn und Schwiegersohn meines Großvaters in den Aufsichtsrat gewählt, nach 1968 waren sie Vorstände der Genossenschaft. Es sollte bis 1989 dauern, bis eine Frau in den Aufsichtsrat gewählt wurde, und erst ab 2008 gab es die erste Frau im Vorstand.

Meine kleine Gartenstadtgeschichte

Ich bin mitten im Zweiten Weltkrieg geboren und nachdem das Haus, in dem meine Eltern wohnten, durch Bomben zerstört war, lebten wir mit drei Generationen in dem Siedlungshäuschen in der Gartenstadt. Mein Vater war wie viele Väter damals »im Krieg geblieben«. Ich bekam zwei Cousinen und einen Cousin. »Normalbesetzte« Familien gab es in der kleinen Siedlung nur wenige.

Der kleine Sohn der Flüchtlingsfamilie aus dem Nachbarhaus war meine erste Liebe. Ich besitze noch ein Foto, auf dem wir nebeneinander auf einem Fußbänkchen sitzen. Noch viele Tage rief ich nach ihm, als er ausgezogen war, aber er kam nicht herunter, so weinte ich in die Sofakissen. Ich wohnte in der Wohnküche und schlief auf dem Küchensofa, und alles, was ich als kleines Mädchen besaß, war in der Schublade des Küchentisches untergebracht. Ich spielte mit den Kindern im Garten und auf der Straße, ging mit meinem Einkaufskörbchen im Konsum einkaufen, mit der Milchkanne zur »Milchgretel« und kaufte Brot beim »Mai‘s Beck«.

Während der Diskussionen, die sonntags beim Frühschoppen in unserer Küche geführt wurden, lernte ich viel über Krieg und Faschismus, über die Rolle von Pfaffen und Klerikalen, über Fabrikbesitzer und Arbeitsmänner und über Männer, die sich die SA-Stiefel angezogen haben und es nachher nicht gewesen sein wollten, über Nachbarn, die »abgeholt« worden waren, und über die, die nicht mehr wieder kamen.

Ein Jahr lang durfte ich 1948 in der Gartenstadt zur Schule gehen, dann kam ich in die Schillerschule, das bedeutete eine gute halbe Stunde Fußweg. Öffentliche Verkehrsmittel gab es nicht. Die Subsistenzarbeit half unserer Großfamilie über die Hungerjahre der Nachkriegszeit. Wir gaben den Hühnern die Küchenabfälle, und sie legten dafür Eier. Wir sammelten Ringelbüsche (Löwenzahn) für die Angorakaninchen und bürsteten sie, damit Oma die Wolle, fein säuberlich sortiert, an eine Wollfabrik schicken konnte. Dafür erhielt sie Wollknäuel für unsere Strümpfe und Pullover. Wir hatten zusätzlich zwei kleine Gärten in der Nähe des Häuschens. Was nicht frisch gegessen wurde, wurde eingekocht. Nachbarinnen bekamen oft einen Teil der Ernte ab. Im Sommer pflückten wir stundenlang Beeren und Kinder, die uns besuchten, bekamen vollgefüllte Papiertüten mit nach Hause. Wer etwas hatte, teilte es mit den Anderen. Das ging alles geldfrei- und tauschlos. Wie ich bei der Feier zu »35 Jahre Contraste« im Januar 2020 gelernt habe, ist das ein neuer Trend. Da war unsere Siedlung der Zeit weit voraus.

Abriss überdenken

»70 Häuser werden abgebrochen«, das war im Schweinfurter Tagblatt vom 15. März 2020 zu lesen. Darunter auch die 36 ersten Häuser von 1920. »Zeitgemäßes Wohnen« bieten diese Häuser der Gartenstadt, die 2017 ihr 100-jähriges Bestehen gefeiert hat, angeblich schon lange nicht mehr. Mit dem Versuch der Haussanierung des »Herzstücks des Bauvereins« sei man schon vor Jahren gescheitert. Befragten Denkmalsachverständigen ist nicht klar, warum »dünne Wände« etc. Hinderungsgrund zur energetischen und zeitgemäßen Sanierung sein sollen. Die Nutzung von historischer Bausubstanz ist in den allermeisten Fällen eine kostengünstige und nachhaltige Bauweise, die vor einem Abriss und Neubau dringend eingehend, möglichst von mehreren Gutachter*innen untersucht werden sollte. Gerade nach den aktuellen Debatten um die Klimakrise sollte der Abriss überdacht werden. Nach meiner Recherche sind die Häuser nicht in die Denkmalliste des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege eingetragen. Warum eigentlich nicht? Gerade Schweinfurt hat eine lange Arbeitergeschichte und diese Gebäude sind ein Zeichen der Bedeutung der Arbeitergenossenschaft, ein anderes gibt es in der Stadt nicht. In anderen Städten hat man die »Gartenstadt« erhalten und entsprechend denkmalschutzgerecht restauriert.

Gisela Notz, Historikerin und Sozialwissenschaftlerin, lebte und arbeitete die ersten 24 Jahre ihres Lebens in der Gartenstadt. Von ihr ist auch erschienen: Als ich noch in der Küchentischschublade wohnte, in: beiträge zur feministischen theorie und praxis, H. 41/1995, S.63-76.

Titelbild: Gartenstadt, Josef-Säckler-Str. 3-5 von den Gärten aus gesehen. Foto: Roland Keinholz

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