»Karneval instandbesetzt«

Seit 1984 ist die Stunksitzung aus dem Kölner Karneval nicht mehr wegzudenken. Das Ensemble trifft alle Entscheidungen basisdemokratisch und nimmt nicht nur althergebrachte Formen des Karnevals auf den Arm, sondern auch sich selbst – mit wachsendem Erfolg beim Publikum.

Petra Metzger, Köln

Eine Maske aufsetzen, sich wie ein Narr gebärden und die Alltagsordnung auf den Kopf stellen – so könnte man den Kern des karnevalistischen Treibens zusammenfassen. In heidnischer Vorzeit huldigte man so Dionysos, dem Gott des Weines und der Freude. Als dann mit dem Christentum Ostern und die Fastenzeit eingeführt wurden, genehmigte man sich vor der Entsagung noch eine kurze Zeit der Ausgelassenheit. Weltliche Herrscher und Angehörige des Klerus hatten während der »Tollen Tage« nichts zu melden. Man wählte einen Narrenbischof oder Narrenpapst und parodierte die Liturgie in »Eselsmessen«.

Übermäßiges Essen und Trinken, sexuelle Ausschweifungen und die Umkehr der Herrschaftsverhältnisse – kein Wunder, dass der Karneval besonders bei den niedrigen Ständen sehr beliebt war. Mit verrückten Gesängen und Umzügen spielte er sich wesentlich auf der Straße ab und uferte zum Leidwesen der Obrigkeit immer weiter aus. Als 1794 die Franzosen Köln übernahmen, wurde aufgeräumt. Die Straßen erhielten Namen, die Häuser wurden nummeriert und beleuchtet und die volkstümlichen Exzesse vor der Fastenzeit verboten.

Das Festkomitee Kölner Karneval

Zwanzig Jahre später wurde Köln von den Preußen regiert. Die protestantischen Beamten waren wenig beliebt, auch sorgten erhebliche Mentalitätsunterschiede für eine eher antipreußische Stimmung in Köln. Aber immerhin: Sie hoben das Karnevalsverbot auf. Nach Jahren der Unterdrückung wurde noch wilder und maßloser gefeiert als zuvor.

Schließlich machten sich wohlmeinende Herren des Kölner Bürgertums daran, in einem festordnenden Komitee das karnevalistische Treiben in Regeln zu fassen, um die Auswüchse zu begrenzen und dem Fest einen bürgerlich gesitteten Rahmen zu geben.

Das parodistische Element wurde gezähmt, aber es blieb. Die damaligen Ordnungskräfte, die Stadtsoldaten, wurden zu Funkenchorps, die mit ihrem »Stippeföttche« (zwei Funken reiben ihre Hintern aneinander) nicht als Kampf- sondern als Tanztruppe auftraten. Die närrische Herrschaft wurde auf das Dreigestirn Prinz, Bauer und Jungfrau aufgeteilt. Wohlhabende Bürger*innen schlossen sich in Karnevalsgesellschaften zusammen und luden zu Prunksitzungen mit Präsidenten und Elferrat (elf Honoratioren, die das Präsidium begleiten), Büttenreden und Musik. Diese Elemente gehören bis heute zum festen Repertoire des Kölner Sitzungskarnevals.

In den 1970er Jahren wuchs der Widerstand gegen eingefahrene Traditionen und starre Formen gesellschaftlichen Lebens. Der Sitzungskarneval in Abendgarderobe, Weinzwang und langatmigen Auf- und Abmärschen diverser Garden verlor an Zugkraft. Er war in weiten Teilen männerlastig, schlüpfrig und teuer.

Der gesellschaftliche Aufbruch ging wesentlich von den Hochschulen aus. Hier nahm auch die Stunksitzung ihren Anfang, im studentischen Protest gegen Stellenstreichungen an der Kölner Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Aus dem kreativen Miteinander der Aktivist*innen ging der Kölner Spielecircus hervor, eine kulturpädagogische Initiative, die Artistik und Clownerei für und mit Kindern anbot. Mit diesem basisdemokratischen Projekt sollten zugleich neue Formen des Zusammenlebens und -arbeitens erprobt werden. Ein Jahr später führten die Akteure erstmalig ein Programm für Erwachsene auf – mit großem Erfolg. Das brachte den damaligen Studenten und heutigen Kabarettist Jürgen Becker auf die Idee einer neuartigen Karnevalssitzung, die das angestaubte Brauchtum mit neuem Leben erfüllen sollte.

Brauchtum wird revitalisiert

Unter dem Motto »Karneval instandbesetzt« wurde das Experiment 1984 als »Stunksitzung« in der Studiobühne der Kölner Universität uraufgeführt. Zu den Mitgliedern der ersten Stunde, die bis heute im Ensemble aktiv sind, gehören Martina Bajohr, Doris Dietzold, Doro Egelhaaf, Didi Jünemann, Martina Klinke, Günter Ottemeier und Bruno Schmitz.

Die Musik der Hausband »Köbes Underground« arbeitete sich an kölschen Vorlagen ab oder verpasste aktuellen Hits witzige neue Texte, die von Anfang an auf Mitsingen und Schunkeln angelegt waren. Funken und Dreigestirn tauchten auch hier wieder auf – als Persiflage der Persiflage. Die selbstgeschriebenen Texte kommentierten Politik und Stadtgeschehen, Medienereignisse, das Verhalten vorrangig der katholischen Kirche aber auch der Grünen, der Lehrer*innen, der linksalternativen Szene. Denn das Ensemble nahm (und nimmt) nicht nur die althergebrachten Formen des Karnevals auf den Arm, sondern auch sich selbst.

Das ist eine, aber nicht die einzige Besonderheit des Formats. Das Ensemble stellt auch Fragen an sich und die eigene Lebensweise. Nach dem ersten Jahrzehnt bilanzierte Gründungsmitglied Martina Klinke: »Vor zehn Jahren gab es für uns ein klares Feindbild. Die böse Industrie und der böse Kapitalismus auf der einen, die Friedens- und Ökologiebewegung auf der anderen Seite. Heute ist die Welt komplizierter und wir sind älter geworden, sind vielleicht nicht mehr so radikal.«

Es ist der Spagat zwischen Kritik und Selbstironie, Professionalität und Botschaft, der mit jeder Sitzung neu ausgetragen wird und so etwas wie das Lebenselixier der Stunksitzung ausmacht.

Intern trägt das Beziehungsgeflecht der Stunker untereinander. Das Ensemble ist nicht einfach nur ein Kolleg*innenkreis, sondern eine tragende Gemeinschaft, mit der Bereitschaft, sich in den Wechselfällen des Lebens gegenseitig zu unterstützen. Waren es vor Jahren noch eher Auszeiten für die Familiengründung, sind es nun Abwesenheiten und/oder Einschränkungen durch Krankheitsfälle, die im Kollektiv aufgefangen werden. Erst in dieser Session 2019 kehrte zum Beispiel Doris Dietzold auf die Bühne zurück und machte ihre Erfahrungen und die langwierige Rehabilitation nach einer Gehirnblutung zum Thema. Auch das zeichnet die Stunksitzung aus: Im Ensemble gilt, dass nicht nur die Leistung zählt, sondern der Mensch. Auch etwas, das das Publikum zu schätzen weiß.

Die Mischung aus Frechheit, kölschem Gemüt und den musikalischen Einlagen ließ die Nachfrage nach Karten von Jahr zu Jahr steigen. Der Spielort wurde ins E-Werk nach Mülheim verlegt und die Anzahl der Aufführungen wuchs. Mehr als 35 Jahre nach Gründung werden pro Session über 50.000 Besucher*innen gezählt. Längst hat der ehemalige Geheimtipp überregionale Popularität, nicht zuletzt dank der regelmäßigen Fernsehübertragung des WDR.

Bei all dem hat sich auch das Ensemble verändert. Das Präsidentenamt hat nach Jürgen Becker und Reiner Rübhausen seit 1999 mit Biggi Wanninger eine Frau. Und mit Ozan Akhan hielt vor gut zwanzig Jahren das erste türkischstämmige Ensemblemitglied Einzug ins Stunkerkollektiv. In einem sind sich die Mitglieder immer treu geblieben: Alles, was die Stunksitzung anbelangt, wurde und wird basisdemokratisch ausdiskutiert.

Links:

Weiterlesen: Petra Metzger, Georg Bungarten, Nadja Fernandes und Manfred Linke (Hrsg.): Karneval instandbesetzt? 25 Jahre Kölner Stunksitzung. Einem Phänomen auf der Spur. Edition Arge Kulturidee, 2009.

Titelbild: Manfred Linke

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