Wie das Wachstum ein dezentrales Netzwerk verändert

Das Fediverse (Abkürzung für Federated Universe) ist ein Netzwerk verschiedener Open Source-Anwendungen, die es ermöglichen, Dinge im Internet zu publizieren. Dieses Universum besteht aus der Summe aller Server, die diese Anwendungen hosten. dezentral, Open Source und ohne Werbung und Datensammlung (siehe auch CONTRASTE Nr. 456). Im letzten Jahr hat sich vieles weiterentwickelt.

Brigitte Kratzwald, Redaktion Graz

Vor einem Jahr, zur Zeit des letzten Gesprächs mit André, der den Fediverse-Server graz.social betreibt, waren die sozialen Netzwerke im Fediverse noch ein Geheimtipp. Als Elon Musk Twitter kaufte, wanderten innerhalb kurzer Zeit viele Nutzer*innen zu Mastodon ab, dem Äquivalent zu Twitter im Fediverse. Grund genug, nachzufragen, wie die Betreiber*innen diese Zeit erlebt haben und wie sich das dezentrale Netzwerk bewährt hat.

Mehr Ressourcen und strengere Moderation

Besonders rasant war das Wachstum in den ersten Wochen. Bei graz.social stieg etwa innerhalb weniger Wochen die Zahl der Nutzer*innen von etwa 250 auf weit über 1.000. Was bedeutet das für eine rein ehrenamtliche Initiative? »Wir haben sofort umgestellt, sodass alle neuen Accounts manuell freigeschaltet werden müssen«, erklärt André. Bei bis zu 100 Neuanmeldungen täglich ein enormer Zeitaufwand, aber dadurch war es auch leicht möglich, Fake- und Spam-Accounts gleich auszusortieren. In dieser Zeit gab es auch viele Meldungen über problematische Beiträge, neue Nutzer*innen hatten eine neue Kultur mitgebracht. Der Ton wurde aggressiver, es gab Beschuldigungen und Urheberrechtsverletzungen. Deshalb wurde anfangs streng moderiert, auch wenn das manche vergrault habe, erzählt André, aber »mir ist es wichtig, dass die Menschen auf meinem Server keine Hasssprache lesen und dass auch keine Urheberrechtsverletzungen passieren«. Auf den kleineren und mittleren Servern sei es weitgehend gelungen, die Diskussionskultur zu erhalten, bei großen Servern gibt es diesbezüglich schlechtere Erfahrungen.

Die meisten Instanzen haben ähnlich reagiert, zusätzlich sind viele neue Instanzen entstanden. Neue Moderator*innen mussten gefunden werden, auch das Grazer Team ist gewachsen, ein Verein wurde gegründet, die Server verstärkt und Finanzierung aufgestellt. Die Instanzen sind untereinander vernetzt, so gibt es etwa ein monatliches Treffen deutschsprachiger Fediverse-Moderator*innen, zum Austausch und zur Abstimmung.

Ein großer Vorteil in dieser Situation war, dass bei der quelloffenen Software viele Menschen gleichzeitig die Programme weiterentwickeln, den neuen Bedürfnissen anpassen und miteinander teilen konnten. Dabei wurde sowohl auf die Bedürfnisse der neuen Nutzer*innen reagiert, die einige Funktionen von Twitter vermissten, als auch neue Werkzeuge entwickelt, die den Serverbetreiber*innen halfen, den Moderationsprozess differenzierter zu gestalten und sich gegenseitig zu unterstützen.

Die rasante Entwicklung geht weiter

Inzwischen hat sich die Situation stabilisiert und man kann durchaus sagen, dass sich diese dezentrale Organisation und die freie Software in dem plötzlichen Wachstumsschub bewährt haben. Technisch, meint André, gäbe es aus seiner Sicht keine Grenze nach oben, was die Zahl der Nutzer*innen betrifft.

So ist auch trotz dieses Entwicklungsschubs kein Ende abzusehen. Immer mehr Anwendungen nutzen das Protokoll »Activity Pub«, die gemeinsame Sprache, die es ermöglicht, dass man von einem Account auf verschiedene Anwendungen zugreifen kann. Inzwischen ist auch WordPress eingebunden und Threads, die neue Plattform von Meta, mit allen Problemen, die das mit sich bringt (siehe Beitrag unten). Die verfügbare Datenmenge steigt dadurch immer mehr an. Während es bisher als Pluspunkt galt, dass es im Fediverse keine Algorithmen gibt, die bestimmen, wer was sehen kann, sondern Beiträge nur chronologisch angezeigt werden, könnte das bei wachsenden Datenmengen zu unübersichtlich werden. Vermutlich brauche es dann doch Algorithmen, allerdings, so André, diese sollten jedoch selbst anpassbar sein – jede*r bestimmt selbst, was sie*er angezeigt bekommen will.

Für die Entwicklung einer solchen Filtersoftware gibt es allerdings schwierige Herausforderungen: Manche Nutzer*innen wollen hauptsächlich für sie interessante Beiträge finden, manchen geht es um Reichweite und Sichtbarkeit, für wieder andere, gefährdete Gruppen, kann schlechte Auffindbarkeit ein Schutz sein. Für die Nutzer*innen bedeutet das, dass sie mehr Entscheidungen selbst treffen müssen, die ihnen kommerzielle Plattformen durch ihre Voreinstellungen abnehmen. Nicht nur welcher Server der richtige ist, muss herausgefunden werden, sondern auch was und wie viel man angezeigt bekommen will. Dafür bekommen die Nutzer*innen mehr Selbstbestimmung, weniger an Kon­­trolle und die Souveränität über die eigenen Daten.

Link: info.graz.social

Titelbild: Die derzeit wichtigsten Anwendungen und Programme im Fediverse-Netzwerk
Grafik: Imke Senst & Mike Kuketz (CC BY-SA)

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