Studentische Projekttutorien

Lehren und Lernen an der Universität: Damit assoziieren viele die Vorstellung von überfüllten Hörsälen und zähen Vorlesungen. Die Profs tragen ihr Skript vor, die Studierenden schreiben mit und hoffen am Ende des Semesters ihre Prüfungen zu bestehen. Diskussion und Kritik? Fehlanzeige. Dieses Klischee trifft genauso oft zu, wie es nicht zutrifft.

Robert Tiede, Berlin

Ein ganz anderes Bild der universitären Lehre und des gemeinsamen Lernens scheinen die studentischen Projekttutorien (PT) zu zeichnen: Es ist 14:15 Uhr, Seminarbeginn vom PT »Anarchismus heute«. Der Raum ist eigentlich zu klein, weil das Interesse wie so oft bei den Tutorien zu groß ist. Abgewiesen wird niemand. Der/die Tutor*in und die Teilnehmer*innen sprechen sich erstmal ab, wer in dieser Sitzung die Redeliste übernehmen will. Dann werden die vorgeschlagenen Themen für das Semester gemeinsam besprochen und basisdemokratisch festgelegt. Die Sitzungen werden von den Teilnehmenden selbstständig gestaltet; Abläufe, Strukturen und Inhalte immer wieder hinterfragt. Zum Schluss jeder Sitzung wird die gemeinsame Feedbackrunde eingeläutet, in der die Texte, die Sitzungen und der Umgang miteinander reflektiert werden. So kann eine Sitzung eines Projekttutoriums aussehen.

Welche Potentiale bietet dieses Format im Gegensatz oder als Ergänzung zu den klassischen Seminaren und Vorlesungen? Seit Jahren beklagen kritische Studierende und Wissenschaftler*innen die Neoliberalisierung der Hochschulen. Freiräume werden immer weiter eingeschränkt, Studierende sollen für den Arbeitsmarkt verwertbar gemacht werden, Forschung und Lehre werden zunehmend in Konkurrenz- und Bewertungssysteme umgewandelt. Forderungen nach selbstbestimmtem und kritischem Lernen und Lehren treffen auf große Widerstände. Doch bestehen diese unabhängigen, selbstorganisierten und kritischen Formate nicht bereits in einigen universitären Nischen? Können beispielsweise die an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) angebotenen und geförderten Projekttutorien als Ausdruck dieser Alternativen gesehen werden? Inwiefern können die PT überhaupt als selbstorganisiert gelten und welches emanzipatorische Potential bieten sie?

Entgegen gesellschaftlicher Strukturen

Als basisdemokratisch und selbstorganisiert verstehe ich horizontale Strukturen zur Umsetzung des Willens und der Bedürfnisse gleichberechtigter Menschen in einer Gruppe. Die Entscheidungsfindungen sollen dabei gleichberechtigt ablaufen und die Delegation von Aufgaben und Kompetenzen grundsätzlich von unten nach oben erfolgen. Damit grenzt sich dieser Ansatz bereits stark von den sonst gängigen vertikalen Gesellschaftsstrukturen ab, in denen aufgrund verschiedener Macht- und Ressourcenverteilungen Herrschaftsverhältnisse bestehen. Dies gilt nicht zuletzt für das akademische Feld. Auch hier sind soziales, ökonomisches, kulturelles und symbolisches Kapital ungleich verteilt. Das spiegelt sich auch in der hierarchischen Gliederung in Nicht-Studierende, Studierende, studentische Hilfskräfte, wissenschaftliches Personal, Profs und Präsidium der Universität wider. Insbesondere aufgrund der neoliberalen Umstrukturierungen der Universitäten seit den 1980er Jahren spricht der Soziologe Richard Münch auch vom »Akademischen Kapitalismus« (Münch 2011) und Sighard Neckel sogar von einer »Refeudalisierung der Gesellschaft« (Neckel 2016).

In dem Spannungsfeld zwischen Basisdemokratie und akademischem Kapitalismus befinden sich die PT der HU. Diese gehen konzeptionell auf die – 2002 gestrichenen – Projekttutorien der Freien Universität Berlin (FU) und die Projektwerkstätten der Technischen Universität Berlin (TU) zurück. Die Tutorien der FU entstanden 1988/89 im Rahmen des Streiks der studentischen Hilfskräfte, der »UNiMUT«-Bewegung und der Ausrufung der »Befreiten Uni« (vgl. zur Geschichte der Berliner Tutorien, zum Streik von 1986, zur Einführung und Streichung der Tutorien: Suchan 2008; Schultheis 2018). Ähnliche studentisch geleitete Seminare gibt es in Form von »autonomen Tutorien« beispielsweise an der Goethe-Uni in Frankfurt a. M. und an der TU Darmstadt.

Zurzeit fördert die HU bis zu zwölf PT pro Semester. Interessierte Studierende stellen einen Antrag, dem ein Gutachten von einem*einer Wissenschaftler*in der HU beigefügt werden muss. Bei einer Zusage durch die zuständige Auswahlkommission der Universität wird ein Hilfskraftgehalt für zwei Semester vergeben.

Ein horizontaler Freiraum

Das PT bietet nach der Zusage einen Freiraum für alternative Themen, Konzepte und Ideen. Im Wintersemester 2019/20 werden beispielsweise die Tutorien »Feministische politische Theorie« oder »Ökologische Nachhaltigkeit in Südostasien« angeboten. Damit ergänzen die Tutorien häufig den bestehenden Lehrplan um kritische Lehrinhalte. Mit der Förderung bleiben die Konzeption, Organisation und Durchführung dem/der Tutor*in überlassen. Das heißt, auch basisdemokratische Konzepte können im Tutorium umgesetzt werden. Die konkrete Umsetzung und Ausgestaltung der PT bleibt der organisierenden Person überlassen, sodass sich alternative Formen des nicht-hierarchischen Lernens verwirklichen lassen.

Andererseits erscheinen die PT auch als Auslagerungsinstrument der kritischen Lehre. Die Institute müssen die stark nachgefragten, aber oft kritischen Themen nicht selbst anbieten. Die Universität kann stattdessen mit sehr billiger Arbeitskraft für viele Studierende relevante Inhalte anbieten. Die Studierenden erbringen hier auch Studienleistungen.

Hinzukommt, dass die Umsetzung horizontaler Strukturen schwierig sein kann oder sogar scheitert, da das jeweilige PT sich natürlich immer noch im bestehenden System befindet: Es wird oft erwartet, dass die klassische Seminarstruktur bestehen bleibt und die Leitenden sich Überlegungen zu Methoden und Didaktik machen. Außerdem wird ein Gehalt an die Leitung ausgezahlt, sodass auch hier Leitungskompetenzen seitens der Universität zugeteilt werden. Aus dieser Struktur resultiert verständlicherweise die Erwartung der teilnehmenden Studierenden, dass die Leitung viel Input gibt und die bestehende Lehr-Lern-Richtung erhalten bleibt. Damit muss generell hinterfragt werden, inwiefern das Ganze als selbstorganisiert oder basisdemokratisch gelten kann.

Die politische Dimension

Richard Münch sieht die Universitäten in einem Spannungsfeld zwischen »innerer Freiheit und äußerer Zweckbestimmung« (Münch 2011: S. 361). In diesem Widerspruch befinden sich auch die PT. Sie erweitern innerhalb dieses universitären Systems die Möglichkeiten kritischer und emanzipatorischer Bildung. Andererseits befinden sie sich in den genannten sozialen und ökonomischen Strukturen, die die Umsetzung dieses Potentials begrenzen können.

Die politische Dimension der PT zeigte sich zuletzt im Streik der studentischen Beschäftigten in Berlin für einen neuen Tarifvertrag. Hier schlossen sich viele Tutor*innen der HU an und bestreikten 13 der 19 Projekttutorien (Erklärung 2018).

Insgesamt sollten die PT von den Studierenden daher als Möglichkeiten der Kritik, Emanzipation und Selbstorganisation wahrgenommen und im Konfliktfall verteidigt werden. Hier können sie eigene Themen umsetzen, einbringen und beim Aufbau universitärer horizontaler Strukturen mitwirken. Da die überwiegende Mehrheit der Universitäten solche Projekte gar nicht fördert oder die Fördermittel gestrichen wurden, steht grundsätzlich zu befürchten, dass auch andern­orts diese Möglichkeiten in Zukunft wieder in Bedrängnis geraten könnten. Nur eine aktive, politische und kritische Studierendenschaft kann solche Kürzungen im Zweifelsfall verhindern oder neue Freiräume beispielsweise durch Bildungsstreiks erkämpfen.

Ob die Projekttutorien selbstorganisiert und basisdemokratisch sind, ist abhängig von den am Projekt beteiligten Studierenden. Fakt ist aber, dass sie eine Möglichkeit darstellen, einen Teil der Universität von unten zu gestalten und Alternativen aufzuzeigen. Es kommt schlussendlich auf die Studierenden an, die gängigen Strukturen zu hinterfragen und horizontale Formate aufzubauen.

Titelbild: fubrennt / flickr (2009)

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