»Bevor wir fallen, fallen wir lieber auf«

Der gemischte Frauenchor »Judiths Krise« wird in diesem Jahr 30 Jahre alt. Anfangs als FrauenLesben- oder LesbenFrauen-Chor aus Berlin bekannt, nannten sich die Frauen später Judiths Krise, weil die erste Chorleiterin, Judith, bei dem Versuch, die Choristas zu bändigen, regelmäßig »die Krise« bekam. Judiths Krise singt von dem persönlichen und politischen Alltag der Frauen, von Themen wie Menstruation, Mode, Einbürgerungstests, Nazis, Heimat, innerer Sicherheit, Szene-Verhaltensweisen und dem Älterwerden. Im Interview mit CONTRASTE sprechen Candida, Gabi, Jutta, Manu und Irmi unter anderem über ihre persönlichen Beweggründe, warum sie (noch immer) bei der Krise mitmachen.

CONTRASTE: Der Chor ist 1993 gegründet worden, hatte die Gender-Debatte in diesen Jahren einen direkten Einfluss auf eure Vorstellungen, welche Ausrichtung der Chor haben soll?

Irmi (eine der Chor-Gründerinnen): Nein, auch nicht auf die Textproduktion. Wir haben uns ja schnell darauf geeinigt, politische Texte auf bekannte Lieder zu dichten und deutsche Texte zu schreiben, um damit unser politisches Selbstverständnis auszudrücken. Und bei uns war und ist es bis heute so, dass du nicht unbedingt singen können musst.

Gabi: Ich bin auch Mitbegründerin und wie viele andere war ich in verschiedenen Frauenzusammenhängen aktiv. Irgendwann habe ich festgestellt, dass ich immer öfter nicht zu Demos gegangen bin. In einer Zeit, als sich viele Frauenzusammenhänge aufgelöst haben, fand ich es super, dass sich Frauen aus unterschiedlichen Frauengruppen für den Chor interessierten. Es war eine Zeit, in der viele Diskussionen unter die Gürtellinie gingen und wo es nur darum ging, sich gegenseitig fertig zu machen. Im Chor habe ich das so nicht erlebt.

Candida: Ich wurde im Herbst ’95 von einer Mitbewohnerin mit zum Chor geschleift. Mir ging es damals schlecht und der Chor tat mir sehr gut. Vor allem gefiel mir die Kombination aus Musik, Politik und Trash. Soweit ich mich erinnere, spielte damals die Identitätsdebatte im Chor keine Rolle. Ich fand es super entspannt und das Miteinander von Heteras und Lesben sehr schön, es hat wahrscheinlich einige Wunden geheilt.

Jutta: Ich bin noch nicht so lange dabei, etwa zehn Jahre. Ich habe lange Zeit im Ausland gelebt und war dort mit vielen auch psychisch schwierigen Situationen konfrontiert. Als ich nach Berlin zurückkam, war für mich die Bandbreite der Texte, der Witz und die Ironie entscheidend dafür, in den Chor zu gehen. Dass es ausschließlich Frauen waren, war mir gar nicht so wichtig.

Manu: Ich bin seit 15 Jahren dabei. Einige der Frauen kannte ich schon aus Urupia in Italien, wo ich einige Zeit gelebt habe. Ich fand vor allem den frauenspezifischen Ansatz von Judiths Krise gut, singen selbst hat mich damals nicht so sehr interessiert.

Gabi: Wir haben uns aber immer als Teil der Bewegung gefühlt und an bekannten Szene-Orten unsere ironischen, uns selbst und die Bewegung auf die Schippe nehmenden Lieder gesungen. Die Szene, die sich ja noch viel mehr an maskulinen Verhaltensmustern orientierte, musste sich an unsere Texte und bunten Bühnen-Outfits erstmal gewöhnen. Anfangs sind wir auch noch klassisch in schwarz aufgetreten, aber mit Tüllschleifen, was damals ein Publikumsaufreger war!

Jutta: Ich erinnere mich an Konzerte, wo Leute rausgegangen sind, weil sie mit der Kritik an der Szene also eigentlich unserer Selbstkritik nicht klar gekommen sind.

Irmi: Chor oder Chöre als politische Protestform waren, kurz gesagt, damals noch sehr fremd. Für uns war wichtig, dass wir uns auf der Bühne und auf Demos frei bewegen konnten.

Ist euer Repertoire nach 30 Bühnen- und Demojahren nicht riesig?

Gabi: Also, wenn wir von A bis Z alle unsere Lieder singen, wäre das ein Event für ein ganzes Wochenende.

Candida: Viele Jahre konnten wir die alten Lieder einfach aus dem Stegreif singen. Aber auch wir sind nicht gefeit davor, dass uns unser Gedächtnis im Stich lässt. Ich schätze, dass wir aktuell so 20 Lieder singen können.

Seid ihr zu Judiths Krise gegangen, weil es ein explizit politischer Chor ist?

Manu: Dass wir ein politischer Chor waren und sind, war für mich schon der Grund bei der Krise mitzumachen. Wir wachsen aber auch künstlerisch immer weiter oder auf anderen Ebenen – Frau wächst mit ihren Aufgaben.

Irmi: Dabei ist ein wesentlicher Punkt, dass alle so angenommen werden, wie sie sind.

Jutta: Was nicht heißt, dass alle der gleichen Ansicht sein müssen zu einem Thema, über das wir singen.

Gabi: Beispielsweise gab es vor einer Demonstration gegen den Ukraine-Krieg von einigen Krisen-Frauen einen Bannervorschlag, der bei uns dann für einige Diskussionen gesorgt hat. Ich fand es super, dass es bei uns möglich war, das Thema kon­­trovers zu diskutieren, ohne uns zu zerstreiten.

Manu: Generell hilft ja eine gute Diskussions- oder Streitkultur, um mit unterschiedlichen Positionen produktiv umgehen zu können. Ich habe beim Chor gelernt, mich viel häufiger zu äußern.

Candida: Außerdem finde ich, dass zusammen Musik zu machen der Hammer ist – es ist ein Kommunizieren auf einer komplett anderen Ebene, auf der eine enge Verbindung untereinander entsteht. Und ich hab schon oft bei mir gespürt und auch x-Mal von anderen gehört: »Ich hab mich Freitagabend halbtot zum Chor geschleppt und bin hinterher lebendiger wieder rausgekommen.« Auch Verkleiden gehört für mich dazu, damit wir das ganze Politische, das uns alle bedrückt, verarbeiten können.

30 Jahre ist eine lange Zeit für eine Gruppe. Was bewegt euch dazu, was ist der Klebstoff, bei der Krise zu bleiben?

Gabi: Was sich für mich verändert hat, ist, dass der Chor zu einer der wichtigsten Sachen für mich geworden ist. Als ich wegen eines Jobs vor der Frage stand, nach Köln zu ziehen, war der Chor mit das beste Argument, mich dagegen zu entscheiden – der Chor, das ist auch mein soziales Leben und nimmt seit 30 Jahren einen großen positiven Raum in mir ein.

Manu: Bei Judiths Krise stelle ich im Vergleich zu anderen Gruppen immer wieder eine wirklich andere Art und Weise des gegenseitigen Zuhörens und der Entscheidungsfindung fest. Hier kann ich mir auch vorstellen, wenn ich jetzt älter bin, wenn ich älter werde, meinen Platz zu finden. Klebstoff für mich ist wirklich, dass der Chor in meiner Vorstellung ein Zusammenhang auch gegen die Einsamkeit im Alter ist oder wenn bei mir Sachen wie Lohnarbeit oder die biologische Familie nicht mehr existieren – das ist ein gutes Gefühl.

Irmi: Wenn ich daran denke, alt zu werden, gibt mir der Chor auch ein sichereres Gefühl. Aber ich finde auch das gemeinsame Wachsen wichtig, dass wir uns nicht nur auf ein Thema beziehen, sondern mit unseren Themen auch andocken können. Und gut ist auch, dass wir uns nicht innerhalb der Woche zur Chorprobe treffen, wenn alle am nächsten Morgen früh aufstehen müssen, sondern am Freitagabend. Durch Corona ist es natürlich jetzt länger unterbrochen gewesen, aber der anschließende Kneipenbesuch war immer wichtig, weil wir da gemeinsam oder in einer kleinen Gruppe über Probleme und Konflikte sprechen können und frau dann wieder gucken kann, wie es in der Großgruppe weitergeht. Das mag sich blöd anhören mit diesem Freitagabend, aber der hat eine ganz wichtige Funktion, genau wie die Regeneration der Gruppe. Es schleichen sich, wenn frau sich lange kennt, ja doch gewisse Selbstverständlichkeiten und Erstarrungen ein.

Jutta: Durch die Idee, schwere und hochpolitische Themen durch einen künstlerischen Ausdruck rüberzubringen ist der Chor unheimlich anziehend für mich. Zwar würde ich nicht sagen, dass hier mein sozialer Mittelpunkt ist, aber wenn ich mich zum Beispiel woanders völlig verausgabt habe und das Gefühl bekomme, ich werde überhaupt nicht verstanden, denke ich beim Chor oft: »Ach, wie schön, ich bin doch nicht völlig bekloppt, hier verstehen mich die Frauen wenigstens.« Wir haben einfach eine ähnliche Basis und das verbindet uns.

Gabi: Aber es gibt auch unter den Älteren teilweise nochmal andere Bindungen, und dann treten diese Frauen, die diese Bindungen haben, bei bestimmten Diskussion einheitlich auf, was schon zu Konflikten führen kann. Das gibt es bei uns auch, aber wir kriegen die Konflikte gelöst.

Manu: Von außen wird die Gruppe als sehr homogen empfunden, was sie aber gar nicht ist. Bei Judiths Krise gefällt mir, dass nicht geleugnet wird, dass es informelle Hierarchien und Konflikte gibt. Zu Anfang meiner Zeit beim Chor ist eine Frau aufgrund eines Konfliktes ausgetreten, ohne uns ihre Gründe zu nennen. Wir haben dann diskutiert, wie wir in Zukunft vermeiden, dass eine sich so unwohl fühlt, dass sie nicht mal über ihre Entscheidung sprechen will und haben dann das Instrument »Giftzwerge« eingeführt. Das sind zwei oder drei Frauen, die als Ansprechpartnerinnen da sind für diejenigen, die es nicht schaffen, einen Konflikt in der Gruppe zu thematisieren.

Jutta: Die Idee der Giftzwerge habe ich in andere Gruppen weitergetragen.

Candida: Gerade geht es bei uns um das Thema Neuaufnahmen, da kocht der Punkt interne Hierarchien immer mal wieder hoch. Ich kenne das aber von keiner anderen Gruppe, dass ein Thema nochmal und nochmal aufkommt. Und dann kommt frau auch weiter, manchmal nicht so schnell wie ich mir das wünschen würde, zugegeben, aber es geht weiter. Wenn bei uns eine sagt, dass ein Thema wichtig ist, dann wird es früher oder später aufgegriffen. Ich glaube, das macht für mich auch das Gefühl von Zuhause-sein aus, wir kennen uns schon sehr lange und wir dürfen mit ganz vielen Sachen da sein. Ich habe das Gefühl, wir wissen immer mehr zu schätzen, was wir mit dem Chor für ein Goldstück haben. Ich weiß gar nicht, was ich zum Beispiel während Corona ohne den Chor gemacht hätte.

Gabi: Ich glaube, ein ganz wichtiger Klebstoff ist, dass alle, die zu uns kommen, verrückt genug sein müssen, dass sie die Verrücktheiten der anderen aushalten. Wir sind alle in gewisser Weise Rampensäue. Manche glauben das zwar nicht, aber ich glaube, dass wir das alle sind.

Das Interview führte CONTRASTE-Autor Jürgen Weber.

Link: www.judiths-krise.de

Titelbild: Beim Kreuzberger Höfesingen (2009) mimte der Chor »Judiths Krise« eine Gruppe von Tourist*innen, die Kreuzberg gentrifizieren. Foto: Judiths Krise

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