2022 war ein bewegtes Jahr für Volkswagen in Wolfsburg. Eine neue Konzernführung will den Laden auf neuen Kurs bringen, das vielgepriesene Trinity-Fabrik-Projekt ist dabei, zu scheitern und vor allem: In Wolfsburg formiert sich Widerstand von neuer Qualität gegen den großen Automobilkonzern. Ein bunter Zusammenschluss von aktiven Menschen aus Wolfsburg, Umgebung und ganz Deutschland hat sich zum Ziel gesetzt, große Veränderungen in Wolfsburg zu erstreiten.
Ruben Gradl, Wolfsburg
2023 wird noch turbulenter werden, denn: In den nächsten Jahren wollen Aktivist*innen eine intensive Kampagne für eine Verkehrswende in und um Wolfsburg und Volkswagen mit vier Haupt-Bausteinen fahren:
1. Keine A39
Es geht darum, der A39 endlich den Todesstoß versetzen. Der »Lückenschluss« zwischen Wolfsburg und Lüneburg darf und wird nicht passieren. Die A39 (bzw. das Gesamtprojekt A39, A14, B190n, B188) zerschneidet das größte zusammenhängende noch autobahnfreie Gebiet Deutschlands. Es führt durch Regionen, die gerade durch ländliche Natur und Kultur geprägt sind. Das gilt es zu erhalten. Jede neue Straße erzeugt auch neuen Verkehr. Das beweist gerade der A39-Ausbau, denn mit dem Ausbau der Autobahn sollen auch darauf zulaufende Bundesstraßen ausgebaut werden, um den zusätzlichen Verkehr aufnehmen zu können. Die A39 ist zudem allem voran eine VW-Autobahn, die der Anbindung von Volkswagen nach Norden (Bremerhaven) zum Transport von Autos dient. VW betreibt auch massiv Lobbyarbeit für diese Autobahn.
2. Kein Trinity-Werk
Keine neue Autofabrik, nicht in Wolfsburg und auch nirgendwo anders. Auch keine Elektroautos, denn Elektroautos sind genauso dreckig und zerstörerisch wie Verbrenner. Eine reine Antriebswende verhindert eine echte Verkehrswende. Für Frühjahr 2023 war der Baubeginn der Trinity-Fabrik bei Warmenau angesetzt. Das Projekt ist aber glücklicherweise jetzt erst eimal auf Eis gelegt.
3. VW umbauen
Und zwar zu einem Unternehmen, in dem ökologisch und sozial tragfähig produziert wird. Das wird dann keine Autofabrik mehr sein. Naheliegend wäre, das VW-Werk in Wolfsburg zu einem Mobilitätsunternehmen umzubauen, in dem Verkehrsmittel gebaut werden, die wir für eine Verkehrswende dringend brauchen: Straßenbahnen, Elektrobusse, Lastenräder. VW steht noch für Volkswagen. Bald schon kann es aber VerkehrsWende heißen.
Wie jedes kapitalistische Unternehmen trifft auch Volkswagen jedoch keine Entscheidungen nach ökologischen und sozialen Maßstäben. Deshalb muss der Umbau von Volkswagen zu einem Verkehrswende-Betrieb mit einem Umbau der Konzernstruktur einhergehen: Von einem Automobilunternehmen zu einem von Arbeiter*innen geführten Kollektivbetrieb. VW wird umgebaut zu einem Betrieb, bei dem die Früchte der Arbeit auch bei denen ankommen, die die Arbeit verrichten und nicht bei Aktionär*innen und Manager*innen.
4. Verkehrswende lokal
Die Ära der autofreundlichen Stadt beenden und eine menschen- und lebensfreundliche Stadt aufbauen. Autofreie Zonen einrichten, ein Netz aus Fahrradstraßen aufbauen, Straßenbahnen als RegioTrams, Parkhäuser zu Wohnhäusern, Parkplätze zu Grünanlagen. Wenn wir die Verkehrswende in der Autostadt der Republik vollziehen, wird das neben positiven Effekten für lokale Ökosysteme und besserer Lebensqualität in der Stadt auch eine große Strahlkraft über die Grenzen Wolfsburg hinaus haben: Das Zeitalter des Autos ist vorbei.
Im Sommer 2022 haben Aktivist*innen ein Haus im Wolfsburger Stadtteil Hellwinkel gekauft, um dieses als Aktions- und Projekthaus für diese Kampagne zur Verfügung zu stellen. In dem Projekthaus »Amsel 44«, einfach und eingänglich nach der Adresse im Amselweg 44 benannt, finden sich jetzt nach ersten Renovierungsarbeiten ein Veranstaltungsraum, Raum für (Gruppen-)treffen, kleine Werkstätten, ein großes und gut ausgestattetes Kampagnenbüro und auch Schlafplätze für Aktions- und Projektgruppen oder Leute, die längerfristig in Wolfsburg aktiv sein wollen.
Von dort aus wurde im September das Baugelände der geplanten Trinity-Fabrik mit einem kleinen Protestcamp besetzt (wir berichteten in der CONTRASTE Ausgabe Nr. 459, Dezember 2022). Das Camp war ein Vernetzungsort für Aktive, Veranstaltungsort und Ausgangspunkt für viele kleine Aktionen. Die Planung für die neue Fabrik lief im Herbst auf Hochtouren, zumindest nach außen hin. Archäologische Grabungen fanden auf dem Gelände statt, Baugrundsondierungen auf dem Acker, »Beteiligungsveranstaltungen« in den umliegenden Ortschaften. Alles bereitete sich auf einen Baubeginn im April 2023 vor. Als am 7. November eine große, auch von Protesten begleitete Trinity-Öffentlichkeitsveranstaltung im Congress Park stattfand, war dort anwesenden Vertreter*innen von Volkswagen (so wurde es uns unter der Hand verraten) bereits klar, dass dieses Datum wohl nicht eingehalten und womöglich sogar das ganze Trinity-Fabrik-Projekt abgeblasen wird. Trotzdem wurde die kostspielige Scheinbeteiligungs-Veranstaltung abgehalten, immer noch mit dem scheinbaren Ziel, größtmögliche Zustimmung für das Projekt zu erzielen.
Wenige Tage später gab Konzernchef Oliver Blume dann bekannt, er werde den Fabrikneubau auf den Prüfstand stellen. Softwareprobleme würden den geplanten Produktionsbeginn des Trinity ohnehin deutlich verzögern, sodass es nun nicht nötig sei, eine neue Fabrik zu bauen, sondern sogar möglich wäre, das Stammwerk umzubauen, sodass der neue Trinity in Zukunft dort vom Band rollen kann. Ohnehin plant der Vorstand, das gesamte Stammwerk auf reine Elektroauto-Produktion umzustellen.
Straßenbahnen statt Autos bauen
Dass jetzt über einen umfassenden Umbau des VW-Stammwerks geredet wird, eröffnet ein Möglichkeitsfenster, wirkliche Veränderungen des Konzerns und des Stammwerks in die Debatte zu bringen. Verkehrswende-Aktive in Wolfsburg schlagen vor, den ohnehin bevorstehenden Umbau des Stammwerks zu nutzen und einen wirklichen Umbau zu vollziehen. Die Hallen bleiben stehen, die Maschinen auch, denn die können gut genutzt werden, um öffentliche Verkehrsmittel zu bauen – vor allem Straßenbahnen. Die können mit geringstem Flächen- und Energieverbrauch die größte Menge an Menschen transportieren, sind ein sehr barrierearmes Verkehrsmittel, werden bei der Umsetzung einer echten Verkehrswende in den meisten größeren Städten noch benötigt und garantieren allen Menschen, wenn sie zum Nulltarif genutzt werden können, Mobilität unabhängig von Geldbeutel und sozialem Stand.
Allianzen mit den Beschäftigten bilden
Dafür versuchen Aktivist*innen, sich in alle möglichen Richtungen zu vernetzen und Menschen zusammenzubringen, die sich für wirkliche Veränderungen einsetzen wollen. Interessant ist dabei, dass es eine große Interessenüberschneidung zwischen Öko-Aktivist*innen und Beschäftigten bei VW gibt bzw. dass in der Debatte um den Umbau des Stammwerks gemeinsame Lösungen gefunden werden können. Ohne die Mitwirkung von Beschäftigten wird es nicht gelingen, die Produktionsstätten umzubauen. Und ohne eine sozial-ökologische Transformation des Konzerns wird es in Zukunft keine gesicherten Arbeitsplätze mehr in Wolfsburg geben. Die Zukunftsentscheidungen, die Volkswagen, wie alle anderen kapitalistischen Unternehmen, trifft, richten sich nicht nach den Bedürfnissen und dem Willen der Beschäftigten, sondern es werden stets die Entscheidungen getroffen, die die größten Profite versprechen. Für Beschäftigte wird immer nur so weit Sorge getragen, dass sie weiterhin ökonomisch verwertbar bleiben und den Laden am Laufen halten.
Die Folgen sind für VW-Beschäftigte zu spüren in immer mehr Kurzarbeit in Wolfsburg, weniger Stammverträge, mehr und mehr Arbeit wird in andere Unternehmen, teils auch Tochterunternehmen ausgelagert, in denen die Gewerkschaft noch nicht so gute Tarifverträge erstritten hat, wie den VW-Stammvertrag, ergo schlechtere Arbeitsbedingungen und niedrigerer Lohn. Ebenso werden vermeintlich ökologische Veränderungen vom Konzern nur soweit betrieben, wie sie sich gut vermarkten lassen: als Kaufargument für ein vermeintlich grünes Endprodukt, Werbung für ein vermeintlich umweltbewusstes Unternehmen (eine Marketing-Strategie, die Volkswagen in der Debatte um die Umrüstung auf Elektroautos teilweise erfolgreich gefahren hat). Um den Widerspruch zwischen Profitinteressen und sozialen und ökologischen Menschheitsinteressen zu lösen, bedarf es der Ermächtigung der Beschäftigten selbst sowie der aktiven Zivilgesellschaft, um Druck aus den Betrieben aufzubauen, die Klimabewegung zu unterstützen und so die soziale und ökologische Verkehrswende zu schaffen. In den kommenden Monaten wollen Aktivist*innen in Wolfsburg sich in alle möglichen Richtungen vernetzen, Allianzen bilden und gemeinsam mit kreativen und druckvollen Aktionen Stimmung machen für einen echten Umbau des Stammwerks.
Neben Aktivitäten für einen Umbau von VW nehmen in Wolfsburg auch Aktivitäten für eine lokale Verkehrswende langsam an Fahrt auf. Verschiedene Initiativen, zum Beispiel für Bodenentsiegelung, entstehen, planen und machen erste Aktionen.Im Januar findet ein Treffen statt, bei dem an ersten Entwürfen eines Wolfsburger Verkehrswendeplans gearbeitet werden soll.
Wir müssen uns endlich vom Auto als Verkehrsmittel der Gegenwart und Zukunft verabschieden. In dieser Auseinandersetzung wird Volkswagen (und damit zwangsläufig auch die Stadt Wolfsburg) eine Schlüsselrolle spielen – so oder so! Sinnvoll wäre es, die Wende nicht zu verpassen, nicht bis zur letzten Minute Verkehrswende-Verhinderin zu spielen, sondern schon jetzt zu beginnen. Wann VW und die Stadt das begreifen, wird sich in den nächsten Jahren zeigen…
Link zum Projekthaus: amsel44.de
In Anlehnung an die Webseite der Autostadt, des Wolfsburger Auto-Themen-Vergnügungsparks, haben Aktivist*innen vor Ort die Website verkehrswendestadt.de erstellt. Dort sind aktuelle Berichte in einem Blog zu lesen, ausführliche Themenseiten über Ideen, Visionen und Meinungen. Auch einen E-Mail-Newsletter kann mensch dort abonnieren.