Zahlungsstreik gegen die hohen Strompreise

Die neugegründete Initiative »Wir zahlen nicht« plant in Deutschland einen Zahlungsstreik gegen den Strompreisanstieg.

Gaston Kirsche, Hamburg

»Schon 2021 wurde rund 235.000 Haushalten der Strom abgeklemmt und 4,3 Millionen Haushalte haben eine Androhung zu Stromsperren bekommen«, erzählt Marwin Felder von der Initiative »Wir zahlen nicht« im Gespräch mit CONTRASTE. »Wer schon vor der Krise kaum für die Rechnungen aufkommen konnte, den zwingen die derzeitigen Preise endgültig in die Knie«.

2022 – das Jahr des massiven Preisanstiegs gerade im Bereich der Grundversorgung. Die Verbraucherpreise sind innerhalb eines Jahres um 7,9 Prozent gestiegen, ermittelte das Statistische Bundesamt und errechnete auch, was besonders verteuert wurde: Bei Heizöl stieg der Preis um 87 Prozent, bei Erdgas um 65 Prozent, bei Strom um 20 Prozent, für Lebensmittel um 13,4 Prozent. Dabei sind die Erhöhungen der Strompreise zum Jahreswechsel in dieser Berechnung der Inflation noch nicht einmal enthalten: Viele Stromanbieter nehmen über 45 Cent pro Kilowattstunde. 2021 lag der Preis im Durchschnitt noch bei unter 30 Cent.

Zwar soll mit der staatlichen Strompreisbremse ähnlich wie bei der geplanten Gaspreisbremse ab März 2023 der Strompreis für 80 Prozent des Vorjahresverbrauchs auf 40 Cent pro Kilowattstunde einschließlich Steuern und Abgaben gedeckelt werden. Als Vorjahresverbrauch gilt der des Jahres 2021. Für jede Kilowattstunde darüber muss der vom Anbieter festgelegte Strompreis gezahlt werden. Angenommen, jemand hat im ganzen Jahr 2021 1.000 Kilowattstunden verbraucht, und zahlt dann ab März 2023 bis Ende 2023 für 800 Kilowattstunden 40 Cent, für den restlichen Verbrauch aber den vom Anbieter bestimmten Preis. Liegt der bei 45 Cent, müssen diese 45 Cent gezahlt werden.

Die Differenz zwischen Vertragspreis und gedeckeltem Preis erhält der Anbieter vom Staat – alle Steuerzahlenden sorgen so dafür, dass die Stromanbieter und -konzerne erhalten, was sie verlangen. Und der gedeckelte Strompreis ist doppelt so hoch wie vor einem Jahr. Aber die Strompreisbremse wird wie die Gaspreisbremse als große staatliche Hilfe gepriesen. Über die soziale Ungleichheit, die mit solch einer staatlichen Maßnahme, die nicht nach Bedürftigkeit differenziert und keinen günstigen Sozialtarif für Haushalte mit geringem Basisverbrauch beinhaltet, wird in der Regel geschwiegen – als ob es ein individuelles Problem wäre, über zu wenig Geld zu verfügen: »Die Regierung setzt auf Individualisierung«, analysiert Marie Bach von »Wir zahlen nicht« auf Nachfrage von CONTRASTE: »Es gibt ein bisschen Entlastung hier und da, aber letztlich sollen alle selbst sehen, wie sie klar kommen. Sie werden alleine gelassen mit der Angst, ob es am Ende des Monats für Essen oder Licht reicht. Wir wollen uns gemeinsam organisieren und uns nicht mit hohen Rechnungen und Stromsperren alleine lassen.« Aus diesem Grund gründete sich die Initiative »Wir zahlen nicht«, die am 10. Januar in Berlin mit einer Pressekonferenz in der Volksbühne an die Öffentlichkeit trat. Entstanden aus einem Kreis an Leuten, die in den letzten Monaten in verschiedenen »Protesten gegen die hohen Preise und das Abwälzen der Krise nach unten aktiv waren«, so Marwin Felder.

Die bisherigen sozialen Proteste blieben klein, der heiße Herbst blieb nasskalt, auch weil die Bundesregierung es geschickt geschafft hat, Unmut wegzureden – wie in der konzertierten Aktion, mit welcher der Bundeskanzler Olaf Scholz es geschafft hat, viele Gewerkschaften von großen Sozialprotesten abzuhalten. Mit den Einmalzahlungen zur Kompensation der erhöhten Energiepreise und Übernahme der Dezemberabschläge für Gas und die Gas- und Strompreisbremse hat die Regierung Aktivität gezeigt. Auch wenn diese unzureichend ist – dem Protest wurde so die Bundesregierung als plakative Gegnerin genommen. Bei den großen Sozialprotesten gegen die Hartz-Gesetze der rotgrünen Bundesregierung ab 2004 war dagegen der Gegner Regierung klar. Jetzt sind der Gegner die Energiekonzerne und die Kapitalverbände, gegen die weniger Leute bereit sind, zu protestieren. Die Kapitalverbände forderten billigere Energie, stärkere Preisbremsen für Unternehmen als für Privatkunden – und kamen damit durch.

Und für Deutschlands führende Energiekonzerne war 2022 ein sehr gutes Jahr. RWE meldete bereits für das erste Halbjahr mehr als zwei Milliarden Euro Gewinn, auch EnBW konnte seinen Profit steigern. Bis September hatte E.on 4,3 Milliarden Euro Gewinn gemacht, bei dem auch in Deutschland wirtschaftenden Konzern Vattenfall liefen bis September 15 Milliarden Gewinn auf. Im November meldete das Handelsblatt, dass RWE seinen Gewinn im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt hat. »Die große Stromnachfrage bei gleichzeitiger Knappheit verfügbarer europäischer Erzeugungskapazitäten sorgte für einen hohen Einsatz der Erzeugungsflotte von RWE«, erklärte RWE am 10. November in einem Statement zur Veröffentlichung der Zahlen. Im Januar gab RWE bekannt, vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen einen Jahresgewinn von 6,31 Milliarden Euro erwirtschaftet zu haben.

Dagegen plant »Wir zahlen nicht« einen Zahlungsstreik für Strom. Auf der Internetseite »wirzahlennicht.info« kann sich registrieren, wer bereit ist, in den Zahlungsstreik zu treten:

Bis zum 29. März haben 4.610 Menschen »zugesagt zu streiken, wenn wir eine Million sind«. In Signalfarben gelb-schwarz gestreift wird klar erklärt: »Für nachhaltigen, bezahlbaren Strom gehen wir in den Zahlungsstreik. Sobald wir 1.000.000 Menschen sind, nehmen wir den Strompreis selbst in die Hand. Gemeinsam bestreiken wir die monatliche Abschlagszahlung. Für Strom als Gemeingut – ohne Gewinne für Konzerne, ohne Schaden für das Klima.«

Angelehnt ist nicht nur das Design der Internetseite, sondern die ganze Kampagne an »Don’t Pay« aus Großbritannien. Eine Internetseite macht zwar noch keine Bewegung, aber »es fehlen vor allem konkrete Handlungsangebote gegen die immer höher werdenden Preise. Der Streik kann dagegen auf verschiedenen Ebenen wirksam sein. Als Zahlungsstreik als konkretes Druckmittel, in der Organisierung als Erzeugung politischen Drucks und in der medialen Präsenz als diskursive Intervention«, so Marie Bach.

Auch die englische Kampagne Don’t Pay startete im Sommer 2022 mit einer Internetseite unabhängig von bekannten linken Organisationen. Bis Ende November hatten 258.000 Leute ihre Bereitschaft erklärt, die Stromzahlung kollektiv zu verweigern – allerdings bei weitem nicht die angestrebte Zahl von einer Million. Aber am 1. Dezember wurde zum Zahlungsstreik aufgerufen. In einem Interview mit »Perspektive online« erklärte Don’t Pay: »Wir haben entschieden, zu einer Bestreikung der Energierechnungen aufzurufen, weil sehr klar wurde, dass bereits Millionen von Menschen nicht zahlten. Entweder, weil sie nicht zahlen konnten oder aber, weil sie dies verweigerten.« Was ein bisschen nach Zugzwang klingt, kann trotzdem eine Dynamik entfalten – laut Don’t Pay gibt es 600 lokale Basisgruppen, welche aktiv vor Ort den Zahlungsstreik vorantreiben.

In der Bundesrepublik steht die Kampagne erst am Anfang, aber es wird auch eine dezentrale, lokale Vernetzung nach Postleitzahl-Gebieten angepeilt: »Uns ist wichtig, gute lokale Strukturen aufzubauen«, so Marie Bach. »Wir wollen ja gerade nicht nur eine Online-Unterschriftensammel-Aktion sein, sondern eine Bewegung werden.« Das wäre ein Unterschied zu einer gleichnamigen Initiative, die im ersten Coronajahr einen Mietstreik organisieren wollte, mit einer schönen Internetseite rauskam, auf Social Media präsent war – und rasch wieder einging. Marie Bach erklärt, von der früheren Initiative wüssten sie bisher nichts.

Die neue Initiative ist aber nicht auf das Erreichen von einer Million Unterstützer*innen fixiert, sondern will auch vorher Aktionen starten. »Wir diskutieren viele Aktionsideen für den Weg bis zu einer Million«, so Marwin Felde. Denkbar seien etwa lokale Streiks, wenn es Regionen gibt, wo es schon sehr viele Streikbereite gibt.

Es gab schon einmal eine Kampagne für Stromzahlungsboykott – 1977, zu Hochzeiten der Anti-AKW-Bewegung. Wolfgang Hertle, der 1977 in Hamburg beim Stromzahlungsboykott aktiv mitgemischt hat, erklärt im Gespräch mit CONTRASTE: »Der Erfolg beim Stromzahlungsboykott in Hamburg und vielen anderen Orten war, als Teil der Anti-AKW-Bewegung provokativ durch bewusste Regelverletzung die öffentliche Aufmerksamkeit zum Thema zu verstärken. Der Stromzähler repräsentierte die direkte Verbindung vom Atomkraftwerk in jeden Strom verbrauchenden Haushalt.« Den Zahlungsstreik »Wir zahlen nicht« hält Wolfgang Hertle vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen für eine sinnvolle Initiative: »Die Zahl der Streikenden allein macht noch nicht den Erfolg aus, es muss in der Öffentlichkeit so viel Verständnis und Sympathie für die Anliegen des Streiks erzeugt werden, bis jeder Prozess gegen Streikende so wie eventuelle Sperrungen der Stromlieferung zu verstärkter Teilnahme am Streik führt. Ich kenne internationale Beispiele wie eine solche Dynamik herbeigeführt wurde, wo Repressionen zu noch mehr Aktionen zivilen Ungehorsams geführt haben.«

Der Stromzahlungsboykott nahm deutlich an Fahrt und Entschiedenheit auf, als sich Gruppen auf der Ebene von Alltagserfahrung, etwa im Stadtteil, in der Kirchengemeinde oder im Bekannten- und Freundschaftskreis gebildet hätten, erinnert sich Wolfgang Hertle.

Ob »Wir zahlen nicht« eine ähnliche Dynamik entfalten kann, ist noch offen – das Angebot zur Beteiligung ist da: »Was wir wann wie machen, wollen wir vor allem aber mit den dann Aktiven und Streikenden diskutieren und entscheiden«, erläutert Marwin Felder. »Wir überlegen vor, aber wir haben auch keinen fertigen und unverrückbaren Masterplan«.

Link: https://wirzahlennicht.info

Titelbild: Wir zahlen nicht

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