(Anti-)Politik im individualistischen Anarchismus

Im folgenden Text gehe ich der Frage nach, welches Verhältnis zwischen individualistischen Varianten des Anarchismus zur Politik besteht. In einem vorherigen Beitrag (siehe CONTRASTE Nr. 459, Dezember 2022) habe ich die (Anti-)Politik im mutualistischen und kommunitären Anarchismus betrachtet, während ich an anderer Stelle, das paradoxe Verhältnis zur Politik im anarchistischen Kommunismus und Syndikalismus beleuchtet habe. Ich setze diese Ausführungen fort, um einige Ergebnisse meiner Doktorarbeit zur politischen Theorie des Anarchismus zugänglich zu machen. Für eine Veröffentlichung suche ich aktuell noch nach finanzieller Unterstützung.

Jonathan Eibisch, Leipzig

Neben der Sozialdemokratie und dem Partei-Kommunismus bildet der Anarchismus eine der Hauptströmungen des Sozialismus. Während erstere sich mit den Strategien der politischen Reform und der politischen Revolution auf den Staat beziehen, kritisieren Anarchist*innen das Handeln auf dem politischen Feld und die Bezugnahme auf politische Logiken, Verfahren und Organisationen. Wesentlich sinnvoller, effektiver und emanzipatorischer erscheint dagegen das Handeln in Form von direkten Aktionen, persönliche Überzeugungen und die eigene Lebensführung. Ideengeschichtlich betrachtet adaptierte der Anarchismus Elemente liberaler Theorien. Dies zeigt bei seiner Betonung von Individualität und Subjektivität, ebenso wie in theoretischen Konzepten der »freien Vereinbarung« und »Selbstorganisation«, dem Organisationsprinzip der »Freiwilligkeit«, als auch in der Bezugnahme von Willensfreiheit, Selbstverantwortung, »Selbst-Eigentum« und der zu erringenden Souveränität von Einzelnen. Auch wenn es einigen kommunistischen und syndikalistischen Anarchismus nicht passt, sind individualistische Aspekte wesentliche Bestandteile des anarchistischen Denkens und Handelns insgesamt.

Ausgangspunkte und Stränge des Individualanarchismus

Dabei gibt es nicht »den« Individualanarchismus an sich, sondern verschiedene Stränge. Meiner Ansicht nach unterschieden werden können der aufklärerische Rationalismus (angefangen bei William Godwin), der Egoismus (ausgehend von Max Stirner, Émile Armand und Renzo Novatore), der Transzendentalismus (etwa von Waldo Emerson, Henry David Thoreau oder Lew Tolstoi) und ein Ultra-Liberalismus(von Benjamin Tucker oder John Henry Mackay). Darüber hinaus bezogen auch ausgewiesene kommunistische Anarchist*innen wie Emma Goldman oder Errico Malatesta gelegentlich individualistische Positionen, wenn es darum ging, vor kollektivistischer Gleichmacherei oder parteilichem Gehorsam und Autoritäts-Anmaßungen zu warnen.

Die Befreiung der Einzelnen ist eine wesentliche Orientierung aller Anarchist*innen, wie bereits 1880 der frühe Anarch@-Kommunist Carlo Cafiero feststellte. Was Individualanarchist*innen jedoch kennzeichnet, ist die Bedeutung, welche sie der Befreiung und Ermächtigung der Einzelnen im Hier und Jetzt zuschreiben und der Erkenntnis, dass Emanzipation im Leben von Einzelnen konkret erfahrbar sein müssen, um etwas zu gelten. »Freiheit« kann deswegen nicht allein durch die Schaffung der gesellschaftlichen Bedingungen für eine selbstbestimmte Lebensgestaltung erreicht werden, noch besteht sie vorrangig in der abgekapselten Selbstverwirklichung vereinzelter Personen. Vielmehr misst sie sich an der Möglichkeit der Kritik und Überschreitung jeglicher Zwänge, Normen und Hierarchien, welche in Kollektiven immer wieder entstehen können. Dies bezeichnet Daniel Loick in seinem Einführungsband als »ästhetische Freiheit«, wurde aber tatsächlich bereits 1882 von Michael Bakunin thematisiert.

Individualistische Aspekte sind aus dem Anarchismus insgesamt nicht wegzudenken. Dies zeigt sich auch darin, dass Themen wie die Vielfalt und Selbstbestimmung in Geschlechtsidentität und sexuellem Begehren in unserer Zeit relevant sind. Ebenso spielt der Individualismus eine Rolle in strategischen Fragen danach, wie sich Einzelne für anarchistische Projekte begeistern und motivieren lassen, als auch bei ethischen Überlegungen darüber, wie man in einer Welt voller Herrschaft anarchistischen Vorstellungen entsprechend leben kann und sollte. Wenn Anarchist*innen etwas zum Verständnis, der Kritik und Weiterentwicklung der gegenwärtigen Gesellschaftsform beitragen wollen, ist zu verstehen, wie sie das Spannungsfeld von Kollektivität und Individualität beschreiben und damit produktiv umgehen können.

Massengesellschaft und Pseudo-Individualismus

Gehen wir noch einmal einen Schritt zurück zur Entstehung der anarchistischen Bewegung um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Parallel zur Durchsetzung des kapitalistischen Wirtschaftssystems, des Modells der patriarchalen Kleinfamilie, der Konstruktion von »Rassen« im Zuge von Kolonialisierung und Versklavung wie auch der systematischen Naturbeherrschung, breitete sich der moderne Nationalstaat aus. Die nationalstaatliche politische Herrschaft regulierte, kontrollierte und regierte immer mehr gesellschaftliche Sphären. Aus Untertanen wurden Bürger*innen und aus Bewohner*innen eine Bevölkerung geformt, welche statistisch erfasst und bürokratisch verwaltet wurde. Zugleich ist der Anbruch der Moderne eine hochgradig ambivalente Angelegenheit. Innovationen in Landwirtschaft, Gesundheitsversorgung, Maschinenarbeit, Bildung und Produktivität ermöglichten einen relativen Wohlstand für einen Teil der Menschen und bildeten somit – verbunden mit einem durch den Humanismus gewandelten Menschenbild – die Voraussetzung für die selbstbestimmte, individuelle Lebensgestaltung.

Die individualanarchistische Kritik daran lautet erstens, dass Selbstbestimmung und Selbstentfaltung eben nicht für alle gleichermaßen möglich wurde und zweitens, dass der bürgerliche Individualismus ein Pseudo-Individualismus wäre – den Einzelnen sei es eben nur so weit gestattet, ihre Besonderheit zu entwickeln, wie sie damit nicht althergebrachte oder auch neu eingeführte Konventionen und hegemonialen Vorstellungen angriffen oder irritierten. Dies betrifft zum Beispiel die Sexualmoral und nicht-sesshafte Lebensstile, bürgerliche Etikette (»Knigge«) und bestimmte Grenzen zwischen dem, was privat gehalten und was öffentlich gezeigt werden soll.

Es ist kein Widerspruch, dass diese Pseudo-Individualisierung mit dem Aufkommen der Massengesellschaft einhergeht. Durch Fabrikarbeit, standardisierte Wohnviertel und Konsumformen, staatliche Schulen und Militärdienst wurden proletarisierte soziale Gruppen gleich gemacht und individuelle Besonderheiten egal. Diese Homogenisierung, wie auch die Verdrängung vormoderner Lebensformen zugunsten nationaler Mythologie, diente zur Herausbildung eines vermeintlich kohärenten »Volkes«. Standardisierte industrielle Produktion verdrängte Handwerk und Industrielle, monokulturelle Landwirtschaft regional angepasste Anbaumethoden. Mit der Kulturindustrie wurden massentaugliche Ausdrucksformen, Rollenmuster und Narrative vereinheitlicht.

Es liegt mir fern mit dieser Beschreibung vormoderne Vergangenheiten zu idealisieren oder sie als romantisierte Projektionsfläche einer vermeintlich heilen und versöhnten Welt entgegen modernen Gesellschaftsformen zu benutzen – wie kalt, zerstörerisch, vereinzelnd und vermassend letztere tatsächlich auch ist. Wesentlich wichtiger ist es, Orientierung darüber zu gewinnen, wo wir gemeinsam hin wollen – und wie wir bereits Hier und Heute so leben und kämpfen können, um dies zu verwirklichen. Dass alle Einzelnen ihre Leben selbst bestimmen, gestalten und entfalten können, sollte dabei weiterhin die Fluchtlinie emanzipatorischer Gesellschaftsveränderung bleiben. Denn Emanzipation gelingt nur dort, wo sie im Leben konkreter Einzelner erfahrbar und durch sie selbst vollzogen wird. Soziale Freiheit ist kein abstrakter philosophischer Begriff, sondern eine Seinsweise, deren Bedingungen wir schaffen und ausweiten können.

Politik als Nivellierung der Einzelnen und »Politik der ersten Person«

Auch individualistische Anarchist*innen wollen also die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern. Dies tun sie angefangen bei ihrem eigenen Leben und ihrer unmittelbaren Umgebung, weil dies nun einmal der Horizont ist, in welchem sie wirksam werden und damit auch Selbstwirksamkeit erfahren können. Damit stellt sich auch die Frage, welches Verhältnis zur Politik sich daraus ableiten lässt.

Grundlegend kritisiert wird, dass politisches Handeln vom modernen Staat vereinnahmt, monopolisiert und diesem häufig zugeordnet wird. In der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie wird nur eine äußerst vermittelte Repräsentation individueller Wünsche und Bestrebungen möglich. Mehrheitsentscheidungen führen dazu, dass Minderheiten und somit auch die Forderungen Einzelner systematisch übergangen werden. Die Bürokratie des modernen Staates behandelt seine Bürger*innen nicht als individuelle Menschen mit spezifischen Wünschen, Bedürfnissen, Fähigkeiten und Lebensweisen, sondern als zu zählende und zu berechnende Bevölkerung, ebenso wie sie von kapitalistischen Unternehmen als Arbeitskräfte mit Humankapital betrachtet werden. Interessen von Einzelnen müssen aggregiert (»gesammelt«) und in einer Fachsprache artikuliert werden, damit sie in politischen Prozessen und Verfahren beachtet werden. Politik führt in einer Gesellschaftsform, die durch die politische Herrschaft der modernen Nationalstaatlichkeit dominiert wird, also notwendigerweise zu einer Entfremdung der Einzelnen von ihren unmittelbaren, eigenen Wünschen, Bedürfnissen, Interessen, Vorstellungen und sozialen Beziehungen. Dies gilt für staatliche Institutionen gleichermaßen wie für politische Parteien.

Den Staat interessiert nicht, was Menschen in ihrem Privatleben denken und tun, wobei er definiert, wo die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem verläuft. Liberale betonen diese Grenze, begründen damit aber auch die Notwendigkeit des Staates, welcher erst die bürgerliche Existenzweise – verknüpft mit dem bürgerlichen Rechtssystem und Privateigentum – einrichtet. Anarchist*innen wollen die Selbstbestimmung der Einzelnen entgegen der verstaatlichten Politik ausdehnen, überschreiten damit aber auch die Grenzen dessen, was privatisiert und veröffentlicht wird. Der Slogan der zweiten Welle der Frauenbewegung »Das Private ist politisch« verdeutlicht, worum es geht: Es ist sollte eben keine Privatsache sein, ob zum Beispiel Männer ihre Partnerinnen bevormunden oder befehligen, denn die patriarchale Kleinfamilie ist eine herrschaftsförmige Institution, die es zu kritisieren und zu überwinden gilt. Dies geschieht auf verschiedenen Ebenen, also auch auf jener der sozialen Beziehungen. Feministische Bewegungen waren erfolgreich, weil sie insbesondere auch ins Private abgeschobene Lebensverhältnisse und Verhaltensweisen thematisierten, Alternativen zu ihnen schufen und ihr Umfeld unmittelbar veränderten.

Die Schwerpunkte in den verschiedenen Strängen des Individualanarchismus in Hinblick auf das Politikverständnis werden dabei verschieden gesetzt.

Von Stirner ausgehend findet sich dabei eine Fundamentalkritik am Politikmachen. Mir ihr wird angenommen, Politik unterwerfe, vereinnahme und nivelliere immer die Einzelnen, die stattdessen einfach unmittelbar ihren Bedürfnissen und Leidenschaften folgen sollten. Daher gelte es auch, sozialistischer Politik gegenüber grundlegend skeptisch zu sein, mit welcher die Einzelnen ebenso missachtet werden würden. Als zeitgenössischer Denker steht zum Beispiel der französische Philosoph Michel Onfray in dieser Tradition, die paradoxerweise in eine anti-liberale, Querfront-populistische Tendenz abgleitet.

Thoreau formuliert dagegen eine Haltung der ausgesprochenen Indifferenz gegenüber staatlicher Politik und kritisiert sie gerade deswegen, weil sie in die Angelegenheit der Einzelnen eingreift. Wenn man so will, soll Politik so fern wie möglich gehalten werden, was aber umgekehrt keineswegs ausschließt, sich um seine Gemeinschaft zu kümmern und damit verbunden das eigene Leben bewusst zu gestalten. Von diesem Ansatz wurden vor allem Konzepte des Zivilen Ungehorsams abgeleitet, die sich auf eine höhere »Gerechtigkeit« und damit auf einen imaginären Gesellschaftsvertrag beziehen, der von verstaatlichter Politik gebrochen werde.

Letzteres ist auch bei Godwin der Fall. In seiner Linie lässt sich am ehesten eine individualanarchistische Politik formulieren. Beispielsweise lehnt er das staatliche und kirchliche Schulsystem ab, argumentiert aber, dass es ein öffentliches Schulsystem brauche, damit Menschen sich emanzipieren können. Damit geht er also wie selbstverständlich davon aus, dass es nicht Aufgabe des Staates sei, gesellschaftliche Institutionen zu schaffen oder zu verwalten, denn dieser würde keine Selbstbestimmung der Einzelnen ermöglichen.

Tucker vermischt Aspekte verschiedener anarchistischer Denker und tritt für eine Variante des Sozialismus ein, die vor allem genossenschaftlich und mutualistisch orientiert ist. Dieser könne am ehesten die Selbstbestimmung der Einzelnen ermöglichen, welche sich in freiwilliger Vereinbarung direkt zusammenschließen sollten. Dafür gälte es allerdings der Tendenz zur Monopolisierung und staatlicher Regulierung entgegenzutreten.

Allen Strängen im Individualanarchismus ist gemeinsam, dass sie die Nivellierung der Einzelnen durch verstaatlichte Politik kritisieren und die politischen Institutionen und Verfahren des modernen Staates nicht für geeignet halten, selbstbestimmte Individuen hervorzubringen. Daher richten sie sich auch gegen den autoritären Kommunismus und sind skeptisch gegenüber groß angelegten Gesellschaftsentwürfen und Revolutionsvorstellungen. Außerdem kritisieren sie die Ideologie politischer Herrschaft, welche zum Beispiel durch Schulen, Geschichtsschreibung, staatliche Medien und Nationalfeierlichkeiten produziert wird. Diese Herangehensweisen sind zwar mit linksliberalen Verständnissen verwandt, erweisen sich bei genauerer Kenntnis jedoch als eigenständige Perspektiven, aus denen sich verschiedene Positionen im Umgang mit Politik feststellen lassen. Während Stirner sich ganz auf den anti-politischen Pol stellt und Thoreau eine Indifferenz befürwortet, versuchen Godwin und Tucker, die Politik aus ihrer Verstaatlichung zu lösen und in den Dienst der Selbstbestimmung der Einzelnen stellen wollen.

Von der Befreiung zur Selbstbestimmung der Einzelnen

Ideengeschichtlich und politisch-theoretisch betrachtet ist anarchistischer Individualismus wie dargestellt nicht damit gleichzusetzen, dass Einzelne eben »ihr Ding« machen, ihnen niemand in ihr Denken und Handeln »reinreden« soll, sie lediglich auf das eigene Glück schauen oder gar das Recht des Stärkeren befürworten würden. Mit anderen Worten ist der Individualanarchismus etwas anderes als der bürgerlich-liberale Individualismus und dessen Zuspitzung im wutbürgerlich-rechten »Libertarianismus« oder sogenannten »Anarcho-Kapitalismus«. Deswegen ist die Kritik von Marxist*innen, Leninist*innen und vielen kommunistische und syndikalistische Anarchist*innen an Verfechtern eines individualistischen Anarchismus nicht zutreffend.

Aus dem Individualanarchismus folgt weder eine Befürwortung der kapitalistischen Wirtschaftsweise, noch ein Recht des Stärkeren und nicht einmal zwangsläufig die Desorganisierung sozialer Bewegungen. Im Gegenteil wird argumentiert, dass moderner Staat, Kapitalismus und Patriarchat eben keine echte Individualisierung im anarchistischen Sinne ermöglichen und dulden, diese also gegen die Herrschaftsverhältnisse ausgeweitet werden müsse. Die Betonung der Einzelnen und ihrer Selbstverantwortung kann gerade zur Förderung eines ethischen Lebens beitragen, in welchem Menschen Verantwortung füreinander übernehmen, sich gegenseitig verstehen, unterstützen und miteinander wachsen möchten. Und schließlich stärkt es Gruppen in sozialen Bewegungen gerade, wenn individuelle Ansichten und Positionen gehört und respektiert werden. Gerade dadurch können besonders Einzelne einen freiwilligen Bezug zu einer Kollektivität herstellen, in welcher sie nicht ignoriert oder eingliedert werden.

Zugleich stimmt es aber ebenfalls, dass wir in einer Gesellschaftsform leben, welche auch im 21. Jahrhundert umfassend durch Pseudo-Individualisierung und Massengesellschaft geprägt ist. Die Digitalisierung und Beschleunigung des Lebens hat beide komplementären Phänomene sogar noch weiter verschärft: Zeitgenössische Menschen empfinden häufig einen Zwang zur Selbstdarstellung auf sozialen Medien, zur Herausstellung ihrer vermeintlichen Besonderheiten und Geschmäcker oder auch zur Überbetonung ihrer persönlichen Betroffenheiten. Zugleich werden sie insbesondere von rechtspopulistischen Akteur*innen manipuliert, aufgepeitscht und vereinnahmt. Diese haben keinerlei Interesse an ihrer wirklichen Selbstbestimmung, sondern sich ganz im Gegenteil gegen diese richten, schauen wir uns beispielsweise die Debatten um Abtreibung an.

Derartige Bedingungen wirken sich verständlicherweise auch auf die Organisation sozialer Bewegungen aus: Wer in einer Gruppe permanent auf die Durchsetzung eigener Ansichten pocht, chronisch gekränkt ist und glaubt, nie gehört, verstanden und respektiert zu werden, kann sich kaum dauerhaft und tiefgehend mit anderen verbünden. Wer in seinen Sorgen und Bestrebungen permanent nur um sich selbst kreist, wird nicht begreifen, dass es die Umstände zu verändern gilt, die es uns schwer machen, einen positiven und authentischen Bezug zu unserem Selbst zu finden. Wer dem neoliberalen Glücksversprechen verfällt und kurzfristige Kicks in der Erlebnissucht und Heische nach Aufmerksamkeit sucht – und sei es im Konsum alternativer Subkulturen – wird nicht nur gerade sein Glück verpassen, sondern auch keine rebellische Haltung entwickeln können. Gerade in Bezug auf diese Themen können individualanarchistische Überlegungen inspirieren, wenn sie als eigenständige Beiträge verstanden werden. Dazu gilt es allerdings vom individualistischen Anti-Reflex zu wirklicher Selbstbestimmung zu gelangen, was manchmal ein schmaler Grad ist. Insofern steht der Individualanarchismus als Ausgangspunkt der Entstehung des Anarchismus, kann aber auch seine Verfallserscheinung darstellen.

Schlussfolgerung für individualanarchistische (Anti-)Politik

In Bezug auf Politik bedeutet dies erstens: Bei sich selbst und dem eigenen Umfeld anzufangen, Dinge zu verändern. Dort kennen wir uns aus und dort erfahren wir jene Selbstwirksamkeit, die entscheidend dafür ist, das eigene Leben insgesamt zur Veränderung werden zu lassen, welche wir uns für die Welt wünschen. Dafür brauchen wir keine hochtrabenden Überlegungen über Revolutionen anzustellen oder zu behaupten, die Bedingungen für radikale und emanzipatorische Veränderungen wären nicht gegeben – denn sie sind es immer oder nie.

In organisatorischer Hinsicht heißt dies, zweitens, sich möglichst anhand konkreter sozialer Beziehungen zu organisieren. Dies bedeutet keineswegs mit allen Genoss*innen befreundet zu sein, aber Affinitäten zu ihnen zu entwickeln. Es geht also darum, Beziehungen aktiv den eigenen Ansprüchen nach zu gestalten, vernünftig zu kommunizieren und einen respektvollen Umgang miteinander zu pflegen. Selbst große soziale Bewegungen sind nur so stark, wie sich die Einzelnen in ihnen direkt zusammenschließen, vertrauen und miteinander kooperieren – was nicht vom Himmel fällt, sondern aktiv gefördert werden kann.

Drittens lässt sich aus dem individualistischen Anarchismus eine Skepsis gegenüber dem Politikmachen ableiten, die durchaus angebracht ist und gut begründet werden kann. Aktionen sind nicht nur dann »erfolgreich«, wenn mit ihnen Druck auf den Staat ausgeübt werden kann, sodass dieser sich genötigt sieht, Reformen einzuleiten. Direkte Aktionen sprechen für sich und haben unmittelbare Effekte auf die Dinge, welche wir kritisieren und verändern möchten. Dies verlangt, dass die Einzelnen aktiv, freiwillig, reflektiert und bewusst, also selbstbestimmt, handeln. Damit wird vorweggenommen, also bereits praktiziert, was Anarchist*innen insgesamt anstreben: Eine Gesellschaftsform, in welcher alle Menschen die Bedingungen haben, über ihre Leben selbst zu bestimmen und sie selbst zu gestalten – was auch einschließt, dass sie Verantwortung für sich selbst übernehmen können und sollen. Ob daraus resultierendes Handeln dann als »politisch« benannt wird oder gerade nicht, ist dabei nicht wichtig. Entscheidend ist, damit vom verstaatlichten Modus politischen Handelns wegzukommen.

Link zum Blog des Autors: https://paradox-a.de/

Titelbild: Als Einzelne*r in der Gruppe: Anarchistischer Individualismus setzt beim eigenen Umfeld an. Foto: suju-foto/Pixabay

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