Alternativer Nobelpreis für Cecosesola

Der »Right Livelihood Award«, auch »Alternativer Nobelpreis« genannt, geht an Menschen und Bewegungen, die sich für die menschenwürdige Lebensgrundlage aller einsetzen. In diesem Jahr ging er unter anderem an »Cecosesola« in Venezuela.

Sigrun Preissing, Commons-Sommerschule & Jacques Paysan, Commons-Atelier Neudenau

Die Ausrichtung menschlichen Tuns auf ein menschenwürdiges Dasein ist kein Standard. Wir müssen es explizit hervorheben, würdigen, einen Preis dafür einführen. In der Regel sind es die Rahmenbedingungen, die wir uns als Weltgemeinschaft geschaffen haben, die die Ausrichtung an Menschenwürde erschweren, nicht der Mensch an sich. Dass es andere Wege gibt, und zwar auch im großen Maßstab, zeigt eine der Gewinner*innen des diesjährigen Preises: »Cecosesola« in Venezuela.

Die »Central Cooperativa de Servicios Sociales del Estado Lara« ist ein Verbund von über 50 Kooperativen, der seit 1967 im Nordosten Venezuelas für eine gemeinschaftlich getragene, solidarische und auf Vertrauen basierende Daseinsfürsorge steht. Unter schwierigsten, durch Gewalt, Wirtschaftskrise, Sanktionen und galoppierende Inflation geprägten Bedingungen schafft Cecosesola einen Raum für Gemeinsamkeit, indem sie eine widerstandsfähige Kultur von gegenseitigem Respekt und fairem Miteinander praktizieren, die tief in der lokalen Ökonomie verwurzelt ist.

Alles begann damals mit dem Tod eines »Cooperativistas«, dessen Familie nicht nur trauernd zurückblieb, sondern auch so arm war, dass sie die Beerdigungskosten nicht alleine stemmen konnte. Aus der Not heraus entstand ein Beerdigungsinstitut, welches kollektiv getragen ist und bis heute besteht. Dort beteiligen sich 184.000 Mitglieder mit einem kleinen monatlichen Betrag, über den sich alle Mitglieder gegenseitig eine würdevolle Bestattung ermöglichen.

Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, existiert Cecosesola noch immer und besteht mittlerweile aus 50 vernetzten Basisorganisationen. Diese umfassen Geburtshilfe, die Versorgung von 75.000 Familien mit ökologischem Gemüse und verarbeiteten Nahrungsmitteln, ein Gesundheitszentrum und vieles mehr. Eben alles, was von der Wiege bis zum Grab für die gegenseitige Versorgung wichtig ist. Diese Tätigkeiten können an vielen Orten der Welt als Dienstleistung erworben werden – ohne dass sie dem Kriterium »menschenwürdige Lebensgrundlage« entsprechen würden. Was ist an Cecosesola anders?

Die Cooperativistas betonen stets, dass die Grundlagen ihres gesamten Tuns die zwischenmenschlichen Beziehungen sind. Alles Tun fußt auf Vertrauen, Respekt, Gerechtigkeit, Solidarität und gegenseitiger Hilfe und wird daran ausgerichtet. Das bedeutet konkret, dass Hierarchien und starre Strukturen weitgehend vermieden werden. Es gibt keine Vorgesetzten bei Cecosesola, alle verdienen den gleichen Lohn, mit Ausnahme der Ärzt*innen, die sich darauf nicht einlassen wollten. Doch auch sie rotieren in ihren Tätigkeiten innerhalb des Kooperativenverbundes. Der Radiologe putzt nach Dienstschluss die Praxis, die Informatikerin arbeitet auch an der Kasse bei einem der großen Lebensmittelmärkte, die Masseurin kümmert sich auch um die Internetseite und die Dienstpläne bei Cecosesola. Der Landwirt und die Pastaproduzentin sitzen auch in einer der 3.000 Versammlungen jährlich und entscheiden im Konsens mit über alle Belange des Verbundes. »Wir sind ein großes Gespräch«, sagen die Cooperativistas über sich selbst1. In den Versammlungen sind jene anwesend, die gerade mitgestalten wollen. Jede Person bei Cecosesola hat das gleiche Recht dazu. Während in den Versammlungen alle gemeinsam Kriterien für Entscheidungen erarbeiten, können diese dann oft von wenigen Personen im konkreten Entscheidungsfall entlang dieser gefällt werden. Geduld, Respekt, Solidarität und Vertrauen durchziehen wie ein Muster die verschiedenen Aktivitäten und Organisationsformen von Cecosesola.

»Wenn Vertrauen da ist, gehört dir die Welt«, lacht Gustavo Salas, eines der Gründungsmitglieder2. Cecosesola bezeichnet sich selbst als großen Lernprozess. Die Menschen lernen im Tun, zu teilen, gemeinschaftlich zu denken, die Bedürfnisse der anderen zu respektieren, wie die eigenen. Ist es das, was menschenwürdiges Leben ausmacht? Ist es das, was wir von Cecosesola lernen können? Ja und Nein. Die meisten von uns haben Praxis darin, zu teilen, sich zusammen mit anderen zu denken und ihre eigenen und die Bedürfnisse anderer zu respektieren. Die Qualität dieses Handelns ist uns gemein. Wir praktizieren es in unseren Familien, Freund*innenkreisen, vielleicht in der Nachbarschaft oder einem Verein. Was vielen von uns nicht gemein ist, ist dies mit Menschen zu tun, die wir (noch) nicht kennen. Doch auch dafür müssen wir nicht nach Venezuela reisen. Um uns herum und durch unsere Gesellschaft hindurch ziehen sich Strukturen gemeinschaftsgetragener Lebensweisen. Es gibt einen Begriff dafür: »Commoning«.

Es sind Zusammenhänge, wie Cecosesola, in denen sich Menschen selbstbestimmt, gemeinsam, bedürfnisorientiert und vor allem ohne Verwertungs- und Wachstumslogik organisieren. Sie tun dies in einer der zahlreichen Solidarischen Landwirtschaften, bei Wikipedia, in Wassergemeinschaften, Finanzkooperativen, im örtlichen Backhäusle auf der schwäbischen Alb, in urbanen Umsonstläden, in Bildungskollektiven, beim Schreiben von Linux-Codes, in foodcoops, bei einer commonsgemäßen Baustelle des Vivihouse Wien. Sie tun es, weil es sinnvoll ist, weil es Spaß macht, weil es lebendig und auf eine bestimmte Art auch »gewöhnlich« ist.

Trotzdem fallen Commons nicht vom Himmel. Die Qualität des Tuns, das »Wie«, die sozialen Praktiken also, machen den Unterschied zur menschenunwürdigen Lebensweise. Denn ein Wald oder eine Wissensplattform können beides sein: gemeinsam genutzte Güter, eingebunden in dauerhafte soziale Strukturen der Kooperation oder schlichtweg, der Verwertungslogik unterworfene Waren. Es sind die Menschen mit ihren Beziehungen, ihrem Tun, die diese menschenwürdige Struktur herstellen. Schon immer, denn Commoning ist eine anthropologische Konstante. In Zusammenhängen, die historisch und kulturell unterschiedliche Namen tragen wie zum Beispiel Dorfgemeinschaft, Clan, Gabengesellschaft oder eben Commons, wird Gegenseitigkeit behutsam ausgeübt. Dies alles geschieht auf der Basis einer gefühlten kollektiven Notwendigkeit. Dieses Beitragen, das Beziehungen in sozialen Zusammenhängen herstellt, definiert, regeneriert und gleichzeitig den kollektiven Bedarf regelt, ist weltweit weiterhin lebendig, auch wenn es regelmäßig unter den Schreibtisch der Mainstream-Ökonomie fällt.

Welch freudige Überraschung, als Elinor Ostrom 2009 den Alfred-Nobel-Preis der Wirtschaftswissenschaften zuerkannt bekam. Sie hatte mit ihren Kolleg*innen auf Grundlage von langjährigen empirischen Untersuchungen aufgezeigt, unter welchen Bedingungen Gemeinschaften überall in der Welt »Ressourcen« gemeinschaftlich nutzen und pflegen. Endlich erfuhren die langjährigen wissenschaftlichen Anstrengungen, Commons in ihrer Bedeutung sichtbar zu machen, ihre gebührende Anerkennung. Eines dieser lebendigen und gelingenden Commons ist Cecosesola. Es ist angebracht, dass es dieses Jahr die Praktiker*innen sind, die Würdigung erfahren. Tragisch bleibt, dass die 2021 tödlich verunglückte Commons-Forscherin und Aktivistin Silke Helfrich, die Cecosesola für den Right-Livelihood-Award nominiert hat, diese Würdigung selbst nicht mehr erleben durfte. Uns andere motiviert dies jedoch umso mehr, der Frage nachzugehen, warum menschenwürdige Lebensweisen eigentlich etwas Besonderes sind, eine Ausnahme statt ein prägendes Muster, das unser Zusammensein als Weltgesellschaft durchzieht.

  1. Helfrich, Silke: »Wir sind ein großes Gespräch«. In: Helfrich, Silke, Bollier, David & Heinrich-Böll-Stiftung: Die Welt der Commons. Muster gemeinsamen Handelns. Transcript, S. 255
  2. Eckart, Carmen: »Alle bestimmen mit – Gelebte Utopie im Krisenland Venezuela«. Film: https://p.dw.com/p/3uUSB

Titelbild: Versammlung bei Cecosesola, Foto: Gerardo Milsztein

Link: https://cecosesola.org

Filmtipp: »Homo communis – wir für alle«
Ein Film, der zeigt, was möglich ist, wenn wir es gemeinsam tun.
Regie: Carmen Eckhardt, Kamera: Gerardo Milsztein, 97 Minuten
Trailer: https://vimeo.com/498939259
Infos: https://homocommunis.de

Das könnte für dich auch interessant sein.