Vollgenossenschaften als Zukunftsmodell

In den letzten CONTRASTE-Ausgaben wurden an dieser Stelle Kooperativen als revolutionäre Strategie von Pawel Handelmann und Jörg Sommer in ihren Möglichkeiten und Limitationen besprochen. Die Frage, warum Kooperativen oder Genossenschaften es bis heute »nicht zu einer sichtbaren gesamtgesellschaftlichen Alternative geschafft haben«, steht dabei im Raum. Hier setzte ein mehrjähriges Forschungsprojekt im Rahmen einer Dissertation an. Der Autor Jens Martignoni entwickelt darin ein neues Modell einer Vollgenossenschaft, das er im Folgenden vorstellt.

Jens Martignoni, Zürich

Die Idee der modernen Genossenschaften wurde im 19. Jahrhundert aus der Not und auch aus den Idealen von Freiheit, Selbstbestimmung und Solidarität im Nachklang der französischen Revolution geboren. Vielfach wurden dabei idealisierte Vorstellungen von Gemeinschaften als Utopien eingesetzt. Die Idee der »Selbsthilfe und des solidarischen Zusammenschlusses«, also die Genossenschaftsidee, war zeitweise sehr erfolgreich in der Umsetzung. Ein Beispiel für große Fortschritte ist die Geschichte der Rochdale-Pioniere. Rochdale ist eine Stadt in der Nähe von Manchester in England, wo 1844 von 28 fast mittellosen Arbeitern eine Genossenschaft mit einem kleinen Laden gegründet wurde, die sich in beispielloser Weise entwickelte und innerhalb von zwei Jahrzehnten auch eine eigene Mühle, Spinnerei, Bäckerei, eigene Wohnungen, eine Kranken- und Sterbekasse und weitere Ressourcen umfasste und über 6.000 Mitglieder hatte. Diese spannende Entwicklung konnte langfristig nicht aufrechterhalten werden, und die Genossenschaft reduzierte sich unter dem Druck des Kapitalismus zu einer reinen Konsumgenossenschaft. Viele andere Genossenschaften haben leider den selben Weg beschritten.

Die Tragödie besteht darin, dass die Kooperativen früher oder später ihre Ideale zu vergessen scheinen und die Ideologie von Konkurrenz und Markt wieder akzeptieren oder sich in kleine Nischen zurückziehen. Eine Ausgangsfrage des Dissertationsprojekts war deshalb, ob und wie Genossenschaften wieder zu ihrer ursprünglichen Idee der Überwindung des Kapitalismus und der Schaffung eines fairen, gemeinschaftlichen und sinnbezogenen (und heute auch bezogen auf die natürlichen Grenzen nachhaltigen) Wirtschaftens zurückfinden können.

Die Forschung setzte dabei an zwei Punkten an:

  • die Aufhebung der Trennung zwischen Produzierenden und Konsumierenden, was in der Folge heißt, dass ein anonymer Markt überflüssig wird
  • die Begründung eines eigenständigen wirtschaftlichen Wertesystems, das durch die Verwendung einer eigenen Währung die notwendige Stabilität erlangt

Der erste Punkt ist bereits eine sehr alte Erkenntnis aus Anarchismus und Sozialismus und zum Beispiel in prägnanter Form bei Kropotkin oder Landauer zu finden. Der zweite Punkt ist in dieser Form neu und beruht auf der Erkenntnis, dass die Geldordnung einen viel entscheidenderen Einfluss auf die Gestaltung der wirtschaftlichen Gegebenheiten hat, als bisher wahrgenommen.

Schlüssel für »ausbeutungsfreie Wirtschaftskreisläufe«

Von Adam Smith über David Ricardo bis zu Karl Marx befasste man sich noch wenig mit dem Geld als eigenständigem Phänomen. Als wichtigste Faktoren der Wirtschaft wurden Arbeit, Boden und Kapital gesehen. Diese werden gemäß dieser Anschauungsweise auf einem Markt über Preise miteinander verknüpft. Geld wird bis heute als Tauschmittel angesehen, das die Tauschvorgänge vereinfacht, an sich aber »neutral« sei. Geld ist aber in Wahrheit kein Tauschmittel. Was meinen wir aber mit »Geld«?

  • Geld als Konzept und Überbegriff für das Phänomen an sich, also vom Geldsystem oder der Geldordnung
  • Geld als Währung, also einem spezifischen Geld mit einem Namen und eigener zugehöriger Verfassung
  • Geld als konkreter Begriff im täglichen Gebrauch, also einem konkreten oder auch noch unbestimmten Geldbetrag innerhalb einer spezifischen Währung

Wenn wir mit diesen Kategorien das Phänomen Geld weiter untersuchen, finden wir, dass Geld immer als spezifische Währung auftritt, die von einem Kollektiv (zum Beispiel einem Staat oder einer Gruppe) zielgerichtet gestaltet, garantiert und reglementiert wird. Anschließend bildet die konkrete Währung einen institutionellen Rahmen für die wirtschaftlichen Vorgänge in diesem Kollektiv. Die Währung ist damit einen Teil der Rechtssphäre und bildet in dynamischer Art Verpflichtungen und Anrechte (Schulden und Guthaben) der Mitglieder dieses Kollektivs ab. Mittels einer Währung kann die Beteiligungsmöglichkeit der verschiedenen Akteure (Personen und Institutionen) am gemeinsamen Sozialprodukt geregelt werden. Außerdem werden damit auch die Werteverhältnisse geprägt.

Heute steht in der Regel nur ein Typ von Währung zur Verfügung, zwar mit verschiedenen Namen (Dollar, Euro, Franken, …), aber nach den gleichen für den Kapitalismus optimierten Eigenschaften. Mit der Nutzung dieser Währungen wird automatisch nicht nur das gesamte kapitalistische Wertgefüge akzeptiert und übernommen, sondern auch das System weiter gefüttert, denn es ist so eingerichtet, dass bei praktisch jeder Transaktion ein versteckter Anteil indirekt an die Besitzenden abfließen muss.

Wenn also eine Kooperative das bestehende Geldsystem nutzt, schwächt sie sich in doppelter Weise selbst. Erstens durch die Gefährdung der internen Werte, die durch die ungefilterte Bewertung mit der kapitalistischen Währung erodiert werden (Hausarbeit ist zum Beispiel nichts wert im bestehenden Geldsystem). Zweitens durch den laufenden Energieverlust, der entsteht, weil durch die Nutzung der bestehenden Währungen die Ressourcen bis in die Kooperative hinein von den Besitzenden ausgebeutet werden können. Das führt zu einem kräfteraubenden »Kampf gegen das System«, der nicht gewonnen werden kann. Das heißt, eine Kooperative muss sich soweit wie möglich abkoppeln vom konventionellen Währungsraum und sollte alle internen wirtschaftlichen Vorgänge mit einer eigenen Währung abbilden. Der damit entstehende zweite Währungsraum ermöglicht erst eine echte Kulturveränderung in Richtung Gemeinschaft und Solidarität. Doch um dies zu realisieren, muss auch die Idee der Kooperative weitergedacht werden.

Was sind Vollgenossenschaften?

Mit dem Verlust der ursprünglichen gesellschaftsbezogenen Forderungen der Genossenschaftsbewegung ist auch die Idee der Vollgenossenschaft in Vergessenheit geraten. Mit »Vollgenossenschaft« wurde eine Genossenschaftsform bezeichnet, die eine volle und umfassende Versorgung unter maximaler Beteiligung und Mitsprache der Mitglieder sowie Gemeinbesitz im besten Sinne von funktionierender Allmende (Commons) vorsieht. Ein solches Modell wurde beispielsweise im Freidorf in Muttenz (Schweiz) ab 1919 verwirklicht und hat sich dort bis in die 1950er Jahre als Gemeinschaft halten können.

Die ursprüngliche Vollgenossenschaft dient hier als Grundmodell, das mit entsprechenden Erweiterungen verstärkt und präzisiert zu einem neuen Wirtschaftsmodell weiterentwickelt wurde. Es kann folgendermaßen definiert werden:

»Eine Vollgenossenschaft nach neuem Modell ist eine Wirtschaftsgemeinschaft mit dem Anspruch, den individuellen und gemeinschaftlichen Verbrauch und die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Mitglieder möglichst vollständig (›voll‹) aus der redlichen Verteilung der gemeinsamen Arbeit und der daraus entstandenen Produktion von Gütern, Diensten und Beiträgen zu decken. Dazu organisiert und bildet sie sich als Gemeinschaft mit freiwilliger Mitgliedschaft, demokratischer Mitbestimmung und verpflichtender Mitverantwortlichkeit und Mitarbeit. Zum Schutze und zur Förderung einer sinnstiftenden und nachhaltigen Zusammenarbeit verwendet sie eine interne Währung. Sie beschafft sich als Kollektiv die notwendigen Voraussetzungen sowohl an Ressourcen und Produktionsmitteln als auch an allen weiteren Einrichtungen, die ihre Mitglieder zu einem selbstbestimmten, würdigen und erfüllten Leben benötigen. Sie ist im aktiven Austausch Teil einer größeren Föderation weiterer Vollgenossenschaften.«

Mit Hilfe von systemischen Ansätzen und Organisationstheorie wurde darauf aufbauend ein umfassendes Organisationsmodell entwickelt.

Kernpunkte des neuen Modells

  • Die Vollgenossenschaft ist ein Modell für die Neugestaltung der wirtschaftlichen Vorgänge außerhalb der bestehenden Wirtschaftsvorstellung. Damit beschreibt es auch eine neue Arbeits- und Lebensweise und einen anderen Umgang mit den Ressourcen und der Natur.
  • Es knüpft an der genossenschaftlichen Tradition und an den Vorarbeiten der Visionär*innen und Pionier*innen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts an.
  • Es geht von einer umfassenden Vorstellung einer egalitären, demokratischen und nachhaltigen Gesellschaft aus.
  • Es reduziert die Entfremdung durch eine Zusammenführung von Produktion und Konsum mittels einer Neugestaltung des Geldsystems.
  • Es ermöglicht bei einer genügenden Verbreitung eine lokal und regional abgestützte nachhaltige, klimaschonende und friedvolle Wirtschafts- und Lebensweise.

Nebst der neuen Währung ist die Neufassung der Mitgliedschaft die wichtigste Komponente im Modell. Das Prinzip der Freiwilligkeit wird hierbei als freiwillige Selbstverpflichtung verstanden, die stufenweise eingegangen und auch wieder stufenweise aufgelöst werden kann. Die Mitgliedschaft zentriert sich um die konkrete Zusammenarbeit und Partizipation, das heißt aktive Mitgestaltung und Mitentscheidung innerhalb der Genossenschaft. Eine Vollgenossenschaft entfaltet so ihre optimale Wirkung in einem Bereich ab 10.000 bis vielleicht 100.000 Mitglieder, die in einem hochstrukturierten Sinne zusammenwirken.

Ein detaillierter Entwurf der organisationalen Strukturen und notwendigen Organe ist in der Dissertation enthalten.

Diese kurzen Ausführungen lassen sicher noch viele Fragen offen. Zum Beispiel die Frage der Transformation. Hier hat das vorliegende Modell vielversprechende Möglichkeiten, da sowohl Neugründungen möglich, aber auch graduelle Transformationen von bestehenden Genossenschaften vorstellbar sind. Die bis dahin entwickelten Ansätze des Modells müssen allerdings noch weiter ausgearbeitet und in Simulationen und Praxistests verifiziert und erfahrbar gemacht werden. Dazu gehörte auch die Eröffnung eines ernsthaften und sorgfältigen wissenschaftlichen Diskurses. Der Autor ist gespannt, ob weitere Schritte dazu gelingen.

Jens Martignoni forscht seit vielen Jahren zu neuen Wirtschafts- und Geldsystemen und beendete kürzlich seine Dissertation an der Universität zu Köln zum Thema eines neuen Genossenschaftsmodells. Er ist Dozent an einer Schweizer Hochschule.

Seine Dissertation ist unter dem Titel »Ansätze zur Entwicklung eines neuen Vollgenossenschaftsmodells mit integrierter Währung« im Nomos Verlag erschienen. Sie ist als gedrucktes Buch erhältlich aber auch als PDF frei verfügbar: https://bit.ly/3TuWlJU

Titelbild: Im Freidorf in Muttenz (Schweiz) konnte ab 1919 für fast 40 Jahre das Modell einer Vollgenossenschaft verwirklicht werden. Heute ist es eine einfache Wohngenossenschaft.
Foto: Theodor Hoffmann 1924, Staatsarchiv BL (Signatur PA 6438)