Zwischen Dorfladen und Kuhfladen

Zwei neue Filme erzählen davon, wie es sich in den 2020er Jahren in der norddeutschen Provinz lebt. Idyllisch bis durchwachsen.

Friederike Grabitz, Lübeck

Berit und Knut Thomsen gehen mit dem Bollerwagen durchs Dorf. Sie bringen eine große hölzerne Schatzkiste mit selbst gebackenem Kuchen, Überraschung für ihre Stammkunden, die wegen der Corona-Pandemie nicht ins Laden-Café kommen dürfen. Dann kommt eben der Laden zu den Kunden und ist auch im Ausnahmezustand, was er von Anfang an war: Das soziale Zentrum des kleinen Dorfes Delve in Schleswig-Holstein.

Materielle Unterversorgung

»Ein Dorf braucht einen Treffpunkt, ohne den ist es verloren«, sagt der Bürgermeister von Christiansholm bei Eckernförde. Sein Dorf hat seit vielen Jahren keinen solchen Treffpunkt mehr. Die Filmemacherin Antje Hubert besucht Dörfer, die sich solche Treffpunkte wieder schaffen. Das Ergebnis ist ein Film mit dem programmatischen Titel »Alles, was man braucht«, der im November auf den »Nordischen Filmtagen« in Lübeck gezeigt wurde. Hubert hat sich einen Namen gemacht als Chronistin für dörfliches Leben, etwa mit den Filmen »Von Bananenbäumen träumen« über die Rettung eines Dorfes mit unkonventionellen Geschäftsideen oder »Das Ding am Deich« über das Leben neben einem AKW. Sie ist selbst in einem Dorf aufgewachsen und erinnert sich, dass es dort in ihrer Kindheit an jeder Ecke kleine Geschäfte gab. In den 1970er Jahren verdrängte sie ein Supermarkt, der dann selbst von größeren Discountern auf der grünen Wiese verdrängt wurde. So war es in vielen Orten. Heute wird die Dorfbevölkerung oft, wenn überhaupt, mit Läden auf Rädern versorgt.

Aber es gibt Dorfläden, die überlebt haben. Zwei Jahre lang ist Hubert mit ihrem Kameramann durch Norddeutschland gefahren und hat Projekte begleitet, die durch die Zeit gerettet oder sogar neu gegründet wurden. So wie der ehemalige letzte »Konsum«-Laden in der Uckermark. Nach der Wende hat ihn die frühere Verkaufsstellenleiterin übernommen. Er hält sich vor allem durch die Eltern einer neu gegründeten freien Schule, die sich nach Schulschluss ein Bier holen und es gleich vor Ort an der Feuerschale trinken, man duzt sich.

Filmstill »Alles was man braucht«: Knut und Berit Thomsen haben in einer leer stehenden Schule einen Dorfladen eröffnet – und damit dem Ort wieder ein Herz gegeben. Foto: mairafilm

Von der LPG zur Öko-Gemeinschaft

Auch ein Dorfladen in Rothenklempenow in Vorpommern gehörte früher zu einer LPG, deren ehemalige Leiterin ist heute hier Kundin. Sie erzählt, dass der landwirtschaftliche Betrieb einst hundert Beschäftigte hatte, bei seiner Schließung waren es nur noch zwei. Dann kam eine Gruppe junger Gärtner*innen und machte daraus eine ökologische Höfegemeinschaft mit Bioladen und Bildungsauftrag. Auf ihrem »Weltacker« zeigen sie Besucher*innen anschaulich, wie groß die Fläche ist, die in einer nachhaltigen Welt jeder Mensch zum Leben hat. »Wenn Sie zwei Schweine im Jahr essen, verbrauchen Sie die Fläche dafür schon komplett«, erzählt Tobias Till Keye, der auch den Hofladen betreibt.

Was brauchen wir? Diese Frage stellt das begrenzte Sortiment der Dorfläden. Beantwortet wird sie ausgerechnet vom Betreiber eines Edeka-Marktes, der aus seinem Angebot von 33.000 Artikeln die Bewohner*innen einer Hallig beliefert: »Auf den ein oder anderen davon könnte man verzichten.« Ein deutlich kleineres Angebot hat die »Regiobox«, eine Art Bushaltestelle mit Büchertauschschrank und einem Lebensmittel-Automaten, die am Ende in dem Dorf Christiansholm gebaut wurde.

Emotionale Unterversorgung

Der Film ist so still wie die Orte, die er zeigt. Audiokommentare und Solo-Partituren für Geige, Klavier und Klarinette funktionieren als akustisches Fahrzeug zwischen den Orten, optisch führen Aquarell-Animationen durch die Zeit. Zurück bleibt eine subtile Sehnsucht nach einer Landpartie.

Was man von Sabrina Sarabis Spielfilm »Niemand ist bei den Kälbern«, der im Milieu eines mecklenburgischen Dorfes spielt, nicht behaupten kann. Er beruht auf dem gleichnamigen, autobiografischen Roman der in Lübeck 1984 geborenen Autorin Alina Herbing.

Die 24-jährige Christin lebt und arbeitet mit ihrem langjährigen Freund Jan auf dem Milchviehhof seiner Eltern. Sie ist hier aufgewachsen und aus Mangel an Alternativen geblieben, aber ihr Blick erzählt von der Sehnsucht, wonach, das weiß sie noch nicht. Es wird nicht viel gesprochen. Das Wesentliche erzählt der Film über Handlungen: Christin, die sich mit einer Freundin die Beine wachst und sich anzieht, als würde sie ausgehen, und dann im weißen Top die Kühe melkt, das Handy im Anschlag. Mit ihrem Freund läuft schon länger nicht mehr viel. Die Strukturen sind patriarchal und unterkühlt: Sie wird nicht gefragt, was sie möchte, und wenn sie es äußert, wird es nicht berücksichtigt. Sie kümmert sich um den Vater, der Alkoholiker ist und sie zum Dank beschimpft. Selbst hat sie den Kirschschnaps immer griffbereit im Auto liegen.

Christin weiß, dass sie dort nicht hingehört, wo sie lebt, und die Anderen wissen es auch, aber es gibt nicht wirklich ein Außen. Ein spontaner Ausflug mit einem Windrad-Installateur nach Hamburg endet im Vagen. Doch als sie dem Hamburger wieder begegnet, beginnen die Dominosteine zu fallen…

Die Struktur hinter der Landflucht

Dass die Figur der Christin niemals ins Zweidimensionale, in den Körperkult oder umgekehrt ins Sufragettenhafte abrutscht, verdankt sie ihrer Darstellerin Saskia Rosendahl, die schon in »Lore«, »Werk ohne Autor« oder »Fabian oder Der Gang vor die Hunde« ihren Figuren Komplexität, Tiefe und Natürlichkeit gab. Die Kamera ist dicht an ihr dran, die Bilder sind stark, aber nicht überstrapaziert: Tiere werden vergiftet, eine Scheune brennt ab, aber wer dahinter steckt und was es bedeutet, muss nicht zu Ende erzählt werden. Die historische Patina des Ortes vor und nach der Wende, abwesende Mütter, der Streit um Windräder, Nazis, mecklenburgische Emus – das alles läuft durchs Bild, doch die Interpretationshoheit bleibt beim Betrachter. Mit einer Ausnahme: Meck-Pom als antiromantische Heimat kommt nicht gut weg.

Das Kernthema der Geschichte ist die Landflucht der Ost-Frauen aus verkrusteten Strukturen. Entstanden ist ein Film über emotionalen, sozialen Mangel – der, wie es scheint, noch schwerer auszuhalten ist als der materielle Mangel in Huberts Dokumentation.

Alles, was man braucht. Dokumentation, Deutschland 2021, R.: Antje Hubert, K.: Henning Brümmer, Mont.: Magdolna Rokob, Anim.: Rainer Ludwigs, P.: Antje Hubert/ mairafilm, NDR. Kinostart in Deutschland im Februar/März 2022.

Niemand ist bei den Kälbern. Spielfilm, Deutschland 2021, R.: Sabrina Sarabi, D.: Saskia Rosendahl, Rick Okon, Godehard Giese, P.: Jonas Weydemann, Milena Klemke u.a.. Kinostart in Deutschland am 20. Januar 2022.

Titelbild: Filmstill »Niemand ist bei den Kälbern«: Dabei und doch so fern: Christin träumt sich fort aus dem Dorf, in dem sie aufgewachsen ist. Foto: Weydemann Bros.

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