Die Uhren ticken hier anders

Man kann sich kaum etwas Paradoxeres vorstellen als das Leben in einer »Genossenschaft« in einem ukrainischen Dorf, doch Longo maï tut dies seit 30 Jahren.

Nailya Ibragimova, Longo maï

Es ist ein Land mit einer komplexen Geschichte, in dem gleichzeitig per Gesetz Kunstwerke der sowjetischen Moderne zerstört werden und Basisinitiativen die sowjetische Vergangenheit neu überdenken. Ja, die Ukraine verändert sich; viele der Menschen, die sich für diese Veränderungen engagieren, dürfen wir unsere Freundinnen und Freunde nennen. Diese Freundschaften, welche in den 30 Jahren von Longo maï in der Ukraine entstanden sind, haben die utopische und etwas romantische Initiative westeuropäischer Linker hier erst möglich gemacht. Kürzlich fragte mich einer der Teilnehmer eines Freiwilligeneinsatzes in unserem Hochstamm-Obstgarten, in dem wir schon gut zehn Hektar mit verschiedenen Apfelsorten anpflanzten, warum unser Kollektiv in solch einem langweiligen Dorf, das kulturell kaum etwas zu bieten hat, lebt. Mit diesem Artikel möchte ichversuchen, diese Frage zu beantworten.

Nischnje Selischtsche, wohin ich vor mehr als drei Jahren zog, besticht einerseits durch seine Gastfreundschaft, andererseits aber auch durch seinen Konservatismus, beispielsweise mit einer strikten Trennung von Frauen- und Männerarbeit. Für manche Projekte müssen wir Leute anstellen; wenn wir dort Männern und Frauen für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn zahlen, ist dies beinahe eine Provokation. Dies mag für Westeuropa banal klingen, nicht aber für Transkarpatien (im äußersten Westen der Ukraine liegende Region) mit seiner enormen Arbeitslosigkeit, steter Arbeitsmigration und chronisch unter dem Existenzminimum bezahlten Frauen. Gleichzeitig ist es auch hier eine Gratwanderung, eine soziale und wirtschaftliche Infrastruktur aufzubauen, aber dabei nicht in koloniale Muster zu verfallen.

Bereichernde Initiativen

Unsere größte Herausforderung besteht darin, den Wert der vorhandenen Ressourcen aufzuzeigen und Wege zu finden, diese nachhaltig zu nutzen. So stellt zum Beispiel die Dorfkäserei, an die vor 27 Jahren noch nicht einmal im Traum zu denken war, nicht nur Qualitätskäse aus Kuhmilch von 200 kleinen Familienbetrieben der umliegenden Dörfer her, sondern hilft auch, die traditionelle Schafzucht am Leben zu erhalten. Die von ihr gegründete Hirtenvereinigung trug zur Aufwertung des lokalen Schafskäses bei und junge Menschen für diesen unpopulären Beruf zu begeistern. Der kürzlich eröffnete Laden »Rakasch« für lokale Produkte funktioniert nach ökologischen Grundsätzen und vereint derzeit 20 engagierte Produzent*innen im Umkreis von 150 km. Viele aus

unserem Freundeskreis scherzen, dass Nischnje Selischtsche das kulturelle Zentrum von Transkarpatien sei.

Das war nicht immer so. In den 1990er Jahren gelang es kaum, Menschen außerhalb der Kirchenmauern zusammenzubringen. Heute sind wir dagegen soweit, dass das Dorf Kulturschaffende und Theaterleute aus der ganzen Welt empfängt. Seit 15 Jahren öffnet unser internationales Jugendtheaterfestival Ptach im monumentalen sowjetischen Kulturhaus neue Horizonte. Ein funktionierendes Kulturzentrum ist heutzutage in einem ukrainischen Dorf eine große Seltenheit.

Junges kulturelles Dorfleben

In der Zentral- und Ostukraine sterben die Dörfer aus, Millionen Menschen verlassen das Land. Für uns ist eine Dezentralisierung der Kultur nicht nur möglich, sondern notwendig. Ohne Infrastruktur geht dies jedoch nicht. Nach zehnjähriger Renovierung haben wir vor vier Jahren im ehemaligen

Schulgebäude ein Jugendgästehaus eröffnet. Es heißt Sargorigo (Pirol) und bietet 24 Personen bequem Platz. Seither haben hier Jugendliche mit erfahrenen Filmemachern Videos realisiert, die vom lokalen multikulturellen Kontext inspiriert sind, Teenager aus der Konfliktzone in der Ostukraine besuchten zum ersten Mal die Karpaten und schlossen Freundschaften mit hiesigen Kindern. Der militärische Konflikt hat die Polarisierung der Menschen in der gesamten Ukraine verstärkt. In acht Jahren Krieg haben wir immer noch nicht gelernt, nicht abwertend über die Menschen »von der anderen Seite« zu sprechen.

Longo maï schafft sichere Diskussionsräume, in denen wir über das Gemeinsame sprechen können. Trennlinien sind langweilig, wir wollen herausfinden, was uns eint! Wir leben in einer einzigartigen multikulturellen Region, in der sich ungarische, rumänische, jüdische und ukrainische Traditionen überschneiden und mischen. Menschen sprechen vielleicht unterschiedliche Sprachen, aber an Hochzeiten singen sie die gleichen Lieder. Nachbarn streiten über dies und jenes, doch wenn einer in Schwierigkeiten ist, wird ihm geholfen. Diese grundlegenden menschlichen Prinzipien finden im seit Generationen überlieferten Gesang ihren Ausdruck; ehrlich und ohne Angst, missverstanden zu werden. Seit 20 Jahren reist die – von Longo maï gegründete – Hudaki Village Band mit dieser Musik im Gepäck um die Welt und vermittelt mit den archaischen, unbequemen Melodien ein anderes Bild der Ukraine. Die Ukraine ist anders, wir sind anders, und Longo maï ist ein Ort, an dem der andere anders bleiben kann.

Nailya Ibragimova, 33, ist Tatarin und stammt aus Murmansk am Polarkreis. Als Ökoaktivistin erlebte sie in ihrer Heimat, wie immer mehr Gleichgesinnte im Gefängnis landeten und verließ vor fünf Jahren Russland. In der Ukraine engagierte sie sich zunächst in sozialen Projekten für Jugendliche in der Konfliktzone im Donbas. Wir baten sie, die transkarpatische Longo maï-Kooperative zu beschreiben, in der sie seit drei Jahren lebt.

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