»Politischer Widerstand ist systemrelevant«

Die Corona-Krise hält das Land seit Wochen in Atem. Es scheint, dass Virologen den Takt vorgeben. Die Regierungen in Bund und Ländern übertreffen sich gegenseitig mit neuen Gesetzen und Notverordnungen. Kritische Stimmen kommen in der Mainstream-Presse so gut wie nicht mehr vor. Dabei wird zunehmend in verfassungsrechtlich geschützte Bereiche eingegriffen. – Ein kurzer Überblick über einige Proteste, die sich für das Versammlungsrecht und die Meinungsfreiheit einsetzen.

JÖRG BERGSTEDT UND PETER STREIFF

Die Exekutive überschlägt sich mit Verfügungen, Verordnungen und Gesetzesänderungen. Selten, vielleicht nie haben Regierende derart entschlossen gehandelt und binnen so kurzer Zeit eine Fülle von Normen erlassen, die bis in bislang unangefochten geglaubte Grundrechte reichen. Auslöser ist ein kleines Virus, dessen schöner Typenname Corona über die tödliche Wirkung vor allem auf alte und bereits anderweitig erkrankte Menschen hinwegtäuscht.

Nach einigen Wochen Berichterstattung über dessen Wüten im fernen China bei weiter vorangetriebener neoliberaler Umorganisierung und Schwächung sozialer Infrastruktur traf das Virus dann Europa und viele Regionen mit voller Wucht. Medien reagierten mit Panikberichterstattung, die Politik mit Sorgen- und Durchhalte­rhetorik, die an Kriegszeiten erinnerte. In diesem Rauschen ging lange unter, wie stark die zum Teil mit heißer Nadel gestrickten Regeln in verfassungsrechtliche geschützte Bereiche eingreifen – weitere Verschlimmerungen sind möglich.

Eines der betroffenen Grundrechte ist das Versammlungsrecht – eine gerade in Corona-Zeiten wichtige Form der Einmischung, stellen die notstandsgesetzähnlichen Ermächtigungen durch die überbordende Ausnutzung der Regelungen im Infektionsschutzgesetz doch sehr grundlegend den Rechtsstaatscharakter dieses Landes in Frage.

Nachbarländer wie Ungarn sind da bereits einen Schritt weiter – hier hat die Legislative abgedankt, die Regierung kann selbst als Gesetzgeber und -aufheber agieren. Denkbar ist das in Deutschland auch. Das war an den Einschränkungen von Artikel 8 Grundgesetz gut sichtbar. Der garantiert die Versammlungsfreiheit. In den meisten Bundesländern existierte sie de facto nicht mehr, obwohl niemand die Verfassung geändert hat.

Demonstrationsverbote

Die ersten Corona-Wochen erweckten den Eindruck, dass die vielen Berichte von Toten und angstmachenden Blicken in die Zukunft auch die politische Opposition in eine schwere Starre hat fallen lassen. Ende März mehrten sich dann Berichte von Versuchen, Versammlungen anzumelden oder Mini-Aktionen von Einzelnen oder kleinen Gruppen unter Beachtung der zur Corona-Eindämmung geschaffenen Normen durchzuführen.

In Hamburg wurde eine Klage gegen das Verbot einer Kundgebung eingereicht. Es ging um den kurz zuvor erfolgten Abriss des Lampedusazeltes, einer Dauermahnwache von organisierten Geflüchteten seit 2013. Wegen kleiner, unangemeldeter Mahnwachen von Menschen mit Schildern, die den vorgeschriebenen Abstand zueinander einhielten und Mundschutz trugen, wurden Platzverweise erteilt, wobei mindestens dreimal auch Ingewahrsamnahmen folgten. Als Begründung kommentierte die Polizei selbst: »›Die Allgemeinverfügung untersagt, dass sich Menschen versammeln.‹ Mehr muss man nicht wissen!« (vollständig zitiert).

Eine zweite Klage betraf eine Seebrücken-Demo. Bemerkenswert war hier wie auch an anderen Orten, dass sich das Versammlungsverbot bei demonstrativen Aktionen schon gegen einzelne Personen richtete mit dem Konstrukt, dass diese durch z.B. Schilder mit politischen Sprüchen andere Personen anziehen könnte, in Kontakt zu treten. Hier wurde das Verbot, sich mit mehr als zwei Personen im öffentlichen Raum zu treffen, so verdreht, dass politische Meinungskundgabe selbst allein nicht mehr möglich ist – in diesem Fall praktisch also das Ende auch der Meinungsfreiheit.

Verfassungswidriges Infektionsschutzgesetz

Nachdem in Niedersachsen die Coronaregeln als Verordnung erlassen wurden, war es eine Straftat, sich zu mehr als zwei Personen – ob mit oder ohne Banner – zu versammeln. Das galt auch mit 1,5 Meter Abstand. Basis dafür war hier wie auch in anderen Bundesländern das Infektionsschutzgesetz, dessen Erweiterung innerhalb von drei Tagen durch Bundestag und Bundesrat gepeitscht wurde. Es ermächtigt die Regierungen, fast alle Grundrechte beliebig außer Kraft zu setzen. In der Jura-Wissenschaft, einsehbar in vielen Foren oder in Fachartikeln, ist die vorherrschende Meinung erkennbar, dass sowohl das Gesetz als solches als verfassungswidrig eingestuft, als auch die konkrete Anwendung als Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsgebot gewertet wird. Von den Mainstream-Medien weitgehend unbeachtet, kritisierte selbst der wissenschaftliche Dienst des Bundestages das Gesetz massiv: Demnach sei »die unüberschaubare Zahl an gesetzlichen Vorschriften … für den Bürger und wohl auch den Gesetzgeber selbst aus der Ermächtigung nicht erkennbar und vorhersehbar«. Außerdem sei für »eine Vielzahl von Ermächtigungen zum Erlass von Rechtsverordnungen« die Zustimmung des Bundesrates »verfassungsrechtlich erforderlich«. Mit anderen Worten: Das Parlament hatte sich verfassungswidrig selbst entmachtet.

Absurd ist, dass der Begriff der Ansammlung in kaum einem Gesetz definiert ist. Das führte in Gießen dazu, dass eine Demonstration mit geplantem Abstand der Teilnehmer*innen von zehn Metern verboten wurde, diese dann aber mit zwei Meter Abstand mit ihren Schildern und Aktionsmaterialien auf der gleichen Fläche von der durchaus anwesenden Polizei und Ordnungsbehörde in Ruhe gelassen wurden, weil es nun offiziell keine Ansammlung mehr war, sondern Einzelpersonen mit dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestabstand. Hier wieherte der Amtsschimmel kräftig.

Erfolg beim Bundesverfassungsgericht

Für die Woche nach Ostern wurden in Gießen erneut mehrere Demos angemeldet: »Für eine Stärkung sozialer Infrastruktur, eine Verkehrswende, offene Grenzen und gegen den Missbrauch der Corona-Pandemie zum Abbau von Grundrechten«. Für den ersten Tag wurde die Demo verboten. Nach Verwaltungsklage, Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof, absurden Kleinscharmützeln mit dem Ordnungsamt reichten die Demo-Anmelder schließlich eine Verfassungsklage beim Bundesverfassungsgericht ein. Der Urteilsspruch, wonach das Demoverbot aufgehoben war, sorgte bundesweit für Schlagzeilen und schaffte es bis in die Tagesschau. Die Stadtverwaltung erließ verschiedene Auflagen, die jedoch vom Verwaltungsgerichtshof Hessen aufgehoben wurden. Am letzten Tag der Aktionswoche konnte die Demo zeitlich unbegrenzt und mit mehr als 50 Teilnehmer*innen stattfinden. Am 25. April konnten sogar 100 Radler*innen mit passenden Abständen fahrend demonstrieren.

Auch in Lüchow brauchte es mehrere Anläufe und Auseinandersetzungen mit verschiedenen Verwaltungsgerichten, um das Versammlungsverbot für einen »Speakers Corner« aufzuheben. Jeweils zwei Personen wollten sich mit Abstand und Markierung einer »Sicherheitszone« mit einem Transparent – »Meinungsfreiheit auch in kranken Zeiten« – für eine Stunde auf dem Marktplatz aufstellen. Denn »nicht nur unsere Gesundheit steht auf dem Spiel, auch unsere Menschenrechte«, sagte Katja Tempel, eine der Mit­­initiatorinnen der neuen Initiative. Erst das Gießener Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach ein Pauschalverbot von Versammlungen in Corona-Verordnungen nicht zulässig sei, ermöglichte auch die Protestveranstaltung in Lüchow. Das gilt inzwischen auch in etlichen weiteren Städten, während andernorts, so im rot-rot-grünen Thüringen, noch länger an den strikten Verboten festgehalten wurde.

Weitere Infos

Dokumentation der Gießener Demo mit allen Gerichtsschreiben: www.giessen-autofrei.tk

https://www.bundestag.de/analysen (vom 2. und 9. April)

Tipps für zivilgesellschaftliche Organisationen von der Allianz Rechtssicherheit für politische Willensbildung: https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/corona/

Antworten und Fragen zu »Corona« und Grundrechte bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte: https://freiheitsrechte.org/corona-und-grundrechte/


Titelbild: Nach Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Die Demo »Gesundheit stärken statt Grundrechte schwächen – Schutz vor Viren, nicht vor Menschen!« am 17. April war mit mehr als 50 Menschen ein voller Erfolg.

Foto: Projektwerkstatt Saasen

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