Für ein Dorf, in dem viele Welten Platz haben?!

Unsere Autorin lebt seit zehn Jahren im Wohnkollektiv Schrägwinkel in der Nähe von Bern. Sie treibt die Frage um, wie sie und ihre Mitbewohner*innen ihre politischen Inhalte in die Realpolitik der (bisher) bürgerlich dominierten Agglomerationsgemeinde Kehrsatz einbringen kann. Ihr Artikel erschien zuerst in der Zeitung des KommuJa-Netzwerkes.

Laura Rossi, Wohnkollektiv Schrägwinkel, Schweiz

Seit zehn Jahren beleben wir ein ehemaliges Bauernhaus sowie ehemalige Gewerberäumlichkeiten am Rande von Kehrsatz, einer Berner Agglomerationsgemeinde mit rund 4.000 Einwohner*innen. In diesen zehn Jahren waren wir sehr stark mit dem Umbau der Gebäude sowie der Konsolidierung der Gruppe beschäftigt. Es ist zwar den meisten Leuten in der Gemeinde bekannt, dass ganz oben im Dorf in einem alten Bauernhaus eine große Wohngemeinschaft lebt, viele Spuren haben wir im Dorf aber noch nicht hinterlassen. Bisher verbindet uns auch nur wenig mit dem Dorf. Vier der sechs Kinder besuchen zwar die Schule im Dorf, die Eltern dieser Kinder engagieren sich auch in der Elternvertretung, dem Turnverein, Freund*innen der Kinder kommen zu Besuch, doch unsere Lebensweise, die gemeinsame Ökonomie, die geteilte Care-Arbeit, haben im Dorf, in dem wir leben, bisher nur wenig bis gar keine Außenwirkung entfaltet. Die Eltern der Freund*innen unserer Kinder beneiden uns zwar um unsere gut funktionierende Kinderbetreuung, die den Elternteilen viel Freiraum gibt, doch bisher hat unsere diesbezügliche Erfahrung im Dorf nicht weitere Personen motiviert, die Care-Arbeit neu zu organisieren.

In Kehrsatz leben mehrere Familien und Einzelpersonen, die ursprünglich aus Eritrea geflohen sind. An einem unserer Hausfeste haben wir zusammen mit eritreischen Frauen* gekocht und haben uns gegenseitig sehr über dieses Zusammenwirken und den Austausch gefreut, doch auch diese Interaktion blieb punktuell.

Frauen*streik 2019

Vor rund einem Jahr, am 14. Juni 2019, fand in der Schweiz der zweite Frauen*streik statt, die größte politische Mobilisierung seit dem Landesstreik 19181. In allen Dörfern, Städten, Institutionen und Betrieben standen Frauen* auf und forderten: »Mehr Zeit, Lohn und Respekt!« So auch in unserem kleinen Dorf. Bereits Monate vor dem feministischen Streik trafen sich Frauen* aus unserem Wohnkollektiv mit Frauen* aus dem Dorf, es kamen Menschen zusammen, die sonst kaum zusammengefunden hätten: Hausfrauen*, kirchlich Engagierte, Frauen* aus dem Dorfverein, von den Grünen, aus der Elternvertretung, aus den Gewerkschaften, Schweizerinnen, EU-Bürgerinnen und geflüchtete Frauen*. Es wurde diskutiert, was an diesem 14. Juni in unserem Dorf geschehen soll. Als Mobilisierungsanlass veranstalteten wir einen Filmabend, an dem Filmmaterial vom Frauenstreik 1991 gezeigt und im Anschluss über »Frauenanliegen« in unserem Dorf diskutiert wurde. Und es kamen ganz viele jüngere und ältere Frauen*. Die älteren Semester teilten mit uns ihre Erfahrungen als Vorkämpfer*innen für familienergänzende Kinderbetreuung, Mittagstische und Blockzeiten. Sie forderten uns auf, uns in der Gemeindepolitik zu engagieren und nicht nur auf der Straße Forderungen zu stellen, denn in den Institutionen würden die Entscheidungen in einer Gemeinde getroffen, da könne Engagement Wirkung entfalten. Diese Statements stimmten mich nachdenklich, und ich stellte mir ganz konkret die Frage: Wie kann ich mich in meiner unmittelbaren Umgebung, in unserem Dorf politisch sinnvoll einbringen?

Der 14. Juni 2019 wurde zu einem überwältigenden Anlass, schweizweit, aber auch in unserem Dorf. Im Nachgang zum feministischen Streik sind im Dorf neue Verbindungen entstanden. Seit dieser Mobilisierung gehe ich anders durchs Dorf, treffe hier und dort Mitstreiterinnen, nicke dort einer älteren Dame zu, die ich am Filmabend kennen gelernt habe, und weiß, dass es bereits vor uns in diesem Dorf Menschen gab, die die ersten Mittagstische für Schulkinder, die Umweltgruppe oder den Flüchtlingssonntag organisiert haben.

Dann kommt der 16. März 2020: Lockdown. Bezeichnenderweise wird ausgehend vom Frauenstreiknetzwerk die Nachbarschaftshilfe organisiert, an der sich selbstverständlich auch Männer beteiligen können.

Nicht nur auf der Straße protestieren

An einem der ersten Lockdowntage gehe ich joggen, um frischen Wind in meinen Homeoffice-Kopf zu bringen. Dabei treffe ich auf meiner Joggingrunde den Präsidenten der Grünen Kehrsatz, der mich um ein Gespräch bittet. Wir vereinbaren einen Telefontermin. Am Telefon fragt er mich, ob ich für die Grünen für den Gemeinderat2 kandidieren möchte. Ich denke über die Anfrage nach, dabei erinnere ich mich an den feministischen Filmabend und die ältere Chäsitzerin3, welche uns jüngere Frauen* aufgefordert hatte, unsere Forderungen in die Gemeindeinstitutionen reinzutragen und nicht nur auf der Straße zu protestieren. Ich denke auch an die vielen geflüchteten Menschen, die in unserem Dorf leben, und entscheide mich, mich für mehr Chancengerechtigkeit und Partizipation von Menschen ohne Schweizer Pass in unserem Dorf einzusetzen, statt auf jede Antira-Demo zu rennen. Ich entscheide mich, in der Kommission mitzuwirken, in der darüber entschieden wird, wie auf kommunaler Ebene die Einbürgerungsgesuche geprüft werden und wie die Umsetzung der sogenannten Integrationspolitik stattfindet. Diese Überlegungen führen dazu, dass ich mich auf der gemeinsamen Liste der SP und der Grünen für den dritten Listenplatz aufstellen lasse, mit der Option, bei der (geplanten) Demissionierung der grünen Gemeinderätin deren Sitz während der laufenden Legislatur zu übernehmen.

Marsch durch die Dorfinstitutionen

Mit dieser Entscheidung habe ich bereits die ersten Schritte auf dem Marsch durch die Dorfinstitutionen gemacht. Ich, die ich in einem urbanen Umfeld aufgewachsen bin, in der außerparlamentarischen Linken rund um die Berner Reitschule4 politisiert wurde und schließlich als linke Anwältin meinen beruflichen Weg eingeschlagen habe, hätte mir noch vor zehn Jahren nicht im Traum vorstellen können, auf dem Boden der Realpolitik zu landen und mich in die Kommunalpolitik einzumischen. Jetzt bin ich so weit und will es versuchen.

Dabei stelle ich mir natürlich unzählige Fragen:

Wie schaffe ich es, meine politische Erfahrung in diversen ausserparlamentarischen Gruppen (Hausbesetzungen, Chiapas-Solibewegung, globalisierungskritische Bewegung, feministische Antifa, antirassistische Kämpfe, Engagement für Grundrechte und gegen Polizeiwillkür, etc.) und meine politische Alltagserfahrung im Wohnkollektiv Schrägwinkel (Konsens, geteilte Care-Arbeit, Gemeinsame Ökonomie, Ökologie) auf die realpolitische Ebene hinunterzubrechen?

Wie bringe ich »unsere Inhalte« in der Gemeinde ein?

Wie bringe ich unsere Moderationstools, unsere Diskussionskultur in Strukturen ein, die hierarchisch strukturiert sind?

Und wie kann unser Wohnkollektiv, das aus meiner Sicht eine gelebte Alternative darstellt, in unserem Dorf mehr Außenwirkung entfalten?

Wie schaffe ich es auf einer persönlichen Ebene, meinen Inhalten, Forderungen und Utopien treu zu bleiben, auch wenn ich mich in realpolitische Gefilde begebe, wo über Fahrradwege, Parkplatzbewirtschaftung und Schulhaussanierungen gestritten wird?

Und umgekehrt: Schaffe ich es, die Themen, die die Gemeindepolitik beschäftigen, auch in unser Wohnkollektiv reinzutragen und mir bei meinen Mitbewohner*innen den inhaltlichen und emotionalen Support zu holen, um mich in der Gemeindepolitik behaupten zu können?

Und wie gelingt es mir, nicht nur die Inhalte unserer »Blase« in die Gemeindepolitik einzubringen, sondern auch denjenigen eine Stimme zu geben, die strukturell ausgegrenzt und unterrepräsentiert sind (Menschen ohne Schweizer Pass, Jugendliche, Menschen ohne Beschwerdemacht)? Oder ganz im Sinne der zapatistischen Bewegung: Was kann ich dazu beitragen, dass das Dorf, in dem wir leben, ein Ort wird, in dem viele Realitäten Platz haben?

Fortsetzung folgt …

1. 1918 traten etwa 250.000 Lohnabhängige und Gewerkschafter*innen in den Generalstreik für Neuwahlen, Frauenstimmrecht, Lebensmittelversorgung, Arbeitszeitbegrenzung, Alters- und Invalidenversicherung u.a.

2. Der Gemeinderat ist die Exekutive und besteht aus fünf Mitgliedern (aktuell zwei Sitze FDP, ein Sitz SVP, zwei Sitze SP/Grüne.)

3. Für das Dorf Kehrsatz wird noch heute in Mundart der alemannische Namen »Chäsitz« verwendet.

4. Basisdemokratisches Kulturzentrum mit Holzwerkstatt, Druckerei, Infoladen, Kino u.a.


Titelbild: Von der Straße ins Rathaus: Wie wirksam können Aktivist*innen sein, wenn sie sich in der Gemeindepolitik engagieren? (Foto: Regine Beyß)

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