Die gesundheitliche Versorgung vor Ort sichern

Die Stadt Tengen mit ihren rund 4.800 Einwohner*innen im Landkreis Konstanz liegt nahe an der Grenze zur Schweiz. Tourismus spielt für den Luftkurort eine wichtige Rolle. In der erfolgreichen Umsetzung eines bürgergetragenen Ärztehauses kommt dem Ort eine wichtige sozialinnovative Pionierfunktion zu. Es ist die erste Bürgergenossenschaft im süddeutschen Raum, die sich der Aufgabe stellt, die ärztliche Versorgung zu organisieren. Über die Stadt Tengen wurde im Verbund mit weiteren »prominenten« Akteuren der Gemeinde die Gründung einer Genossenschaft initiiert und beeindruckend schnell und erfolgreich umgesetzt.

Burghard Flieger, Redaktion Genossenschaften

Gegenstand der Bürgergenossenschaft mit dem Namen »Ärztehaus Stadt Tengen eG« ist laut Satzung die Sicherstellung der haus- und zahnärztlichen Grundversorgung mittels Errichtung und Vermietung eines Ärztehauses sowie die Förderung des sozialen Zusammenlebens in der Stadt Tengen. Mit dem Erwerb von Geschäftsanteilen leisten die Genossenschaftsmitglieder einen Beitrag zur ärztlichen Versorgung in ihrer Gemeinde. Darüber hinaus können sie von einer Rendite auf ihre Geschäftsanteile profitieren. Die Generalversammlung der Genossenschaft entscheidet jährlich, ob und in welcher Höhe eine Ausschüttung erfolgt. Die Ärzteschaft, die das Gebäude nutzt, genießt den Vorteil, nicht von einem anonymen, auf hohe Gewinnerzielung ausgerichteten Investor abhängig zu sein. Vielmehr arbeitet sie mit einer Organisation zusammen, getragen von den Bürger*innen und Unternehmen vor Ort, die an einem langfristigen Engagement interessiert sind.

Generationsübergreifend

Ziel war und ist, über attraktive Räume im Zentrum des Ortes leichter ärztlichen Nachwuchs zu gewinnen, zumal eine hohe Mitgliederzahl die Verbundenheit mit dem Ärztehaus und den Praxen signalisiert. Angesiedelt in dem Gebäude sind als »Ankermieter« eine hausärztliche Gemeinschaftspraxis und eine zahnärztliche Praxis. Außerdem wurde in dem Haus erstmals ein Tagespflege-Angebot in Tengen etabliert. Im Erdgeschoss befindet sich ein Raum für eine Tagespflege mit zwölf Plätzen der Sozialstation Oberer Hegau. Diese wird kombiniert mit einer städtischen Kinderkrippe, so dass auch der generationsübergreifende Gedanke gelingt. Senioren und Kinder ab zwei Jahren verfügen über eigene Räume, teilen sich aber den Essbereich und können sich im Garten und bei gemeinsamen Aktivitäten begegnen.

Im Vorfeld der Umsetzung beschloss der Gemeinderat im Jahr 2018, die Gründung einer Genossenschaft zu initiieren. Für zehn Vorhaben erhielt die Stadt Tengen 2019 eine Zusage über fast 750.000 Euro aus dem Entwicklungsprogramm Ländlicher Raum (ELR). Zu den geförderten Projekten gehörte auch das geplante Ärztehaus in der Kernstadt Tengen, unterstützt mit 200.000 Euro. Ihre Bereitschaft als Gründungsmitglieder signalisierten vorab schon die Ärzteschaft, Stadtapotheke Tengen, katholische und evangelische Kirchengemeinde Tengen, die Sparkasse und die Volksbank als örtliche Banken sowie mehrere bekannte lokale Unternehmen. Insofern kann von einer Top-down-Gründung gesprochen werden. Eine zentrale Rolle übernahm Bürgermeister Marian Schreier, der 2015 in Tengen zum damals jüngsten Bürgermeister in Baden-Württemberg gewählt wurde.

Das Ärztehaus ist nun eine zentrale Anlaufstelle in Tengen. Foto: Stadtverwaltung Tengen

Schreiers Vision ist nach eigenen Angaben, neu zu denken und danach zu handeln. Als »Veränderungszuversicht« betitelte der Bürgermeister dies wiederholt. Damit pointiert er seine Überzeugung, dass sich Dinge verändern lassen: »Die Gewissheit, dass sich Veränderung lohnt, auch wenn der Ausgang offen ist. Und die Zuversicht, die entsteht, wenn man sich gemeinsam etwas vornimmt und handelt.« Handeln in diesem Sinne sieht Schreier als »Gemeinschaftsleistung von Gemeinderat, Verwaltung und allen voran der Bürgerschaft«. Er hofft, dass dieses ausgeprägte Gemeinschaftsgefühl in Tengen erhalten bleibt, auch wenn er 2023 für sein Amt nicht ein weiteres Mal kandidierte.

Im Dezember 2018 wurde den Bürger*innen die Idee der Gründung einer Ärztehaus-Genossenschaft vorgestellt. Die Resonanz war von Beginn an sehr positiv: Knapp 200 Absichtserklärungen zur Beteiligung an der Genossenschaft – abgegeben im Rathaus – kamen schnell zusammen. Rund 800 Anteile in Höhe von jeweils 500 Euro sollten erreicht werden, was innerhalb kurzer Zeit gelang. Mit den Absichtserklärungen im Rücken gründete eine Kerngruppe von 15 Beteiligten im Februar 2019 die Genossenschaft. Als Gründungsvorstände bestellte der Aufsichtsrat Bürgermeister Marian Schreier und Dr. Andreas Luckner. Letzterer arbeitet seit über 30 Jahre als Landarzt und übernahm als Vertretungsarzt auch im Ärztehaus eine aktive Rolle. Mit der bedrohlichen Entwicklung der Unterversorgung ist er seit langem gut vertraut. Zu diesem Zeitpunkt lagen bereits 340 Absichtserklärungen für mehr als 1.000 Anteile vor, mit dem erforderlichen Grundkapital von 560.000 Euro. Damit konnten die anfänglichen Erwartungen deutlich übertroffen werden.

Gemeinschaftsleistung mit der Gemeinde

Die Stadt Tengen hat laut Genossenschaftssatzung das Recht, ein Mitglied in den Aufsichtsrat zu entsenden. Im Anschluss an das Gründungsgutachten des Baden-Württembergischen Genossenschaftsverbands (BWGV) und erfolgter Eintragung beim Registergericht im März 2019 wurde die erste Generalversammlung einberufen, zu der Interessierte eingeladen waren. Erst nach der Eintragung konnten die Bürger*innen der Genossenschaft formal und rechtlich bindend beitreten: Alle Interessenten, die eine Absichtserklärung unterzeichnet hatten, wurden angeschrieben mit einer Beitrittserklärung für den formalen Erwerb der Mitgliedschaft.

Die Bauplanungen für den Neubau am Kastaniengarten neben dem Rathaus kamen nach Zustimmung des Gemeinderats für das Baugesuch schnell voran. Im Rahmen des städtischen Bürgerempfangs wurde der aktuelle Stand präsentiert: ein dreigeschossiges, barrierefreies Gebäude in Holzskelettbauweise mit mehreren Nutzungsmöglichkeiten. 40 Stützen und 30 Träger übernehmen die Statik. Dadurch sind die Wände nicht tragend und können variabel positioniert werden. Auch mit Verwendung von BauBuche im Tragsystem und weitspannenden Brettsperrholzplatten konnten die Anforderungen an den Brand- und Schallschutz erfüllt werden.

Zügige Umsetzung einer Genossenschaft

Der Bau startete im Mai 2020 mit dem ersten Spatenstich. Mit der Ausführung des Vorhabens wurde die Firma Kaspar Holzbau GmbH als Generalunternehmer beauftragt. Zu Baubeginn umfasste die Genossenschaft 400 Mitglieder, mehrheitlich Bürger*innen aus Tengen. Insgesamt brachten sie zu diesem Zeitpunkt über 650.000 Euro in Form von Genossenschaftsanteilen auf. Das Bauvolumen lag nunmehr bei 3,25 Millionen Euro. Gerechnet wurde jetzt mit einer Bauzeit von einem Jahr bis Juni 2021. Im Juli 2021 konnte das genossenschaftlich finanzierte Ärztehaus in Tengen bei strömendem Regen fast pünktlich im Rahmen des Planungszeitraums eröffnet werden. Dass sich die Investitionen und das gemeinsame Engagement der Bürger*innen gelohnt haben, macht das attraktive, ökologisch anspruchsvolle und gleichzeitig funktionale Gebäude deutlich.

Bei der Einweihung zählte die Genossenschaft 411 Mitglieder, die 1.438 Anteile in Höhe von 719.000 Euro gezeichnet haben. Die Bausumme des Ärztehauses ist mittlerweile auf 3,4 Millionen Euro gestiegen. Die Tengener Bürger*innen würden die neue Mitte ihrer Gemeinde mit Leben füllen, so Bürgermeister Schreier bei der Eröffnung. Durch das Ärztehaus, Tagespflege, Kinderkrippe und das Rathaus sind hier die entscheidenden Voraussetzungen geschaffen worden. Eine Apotheke liegt nur zwei Häuser weit entfernt. Für die Beschäftigten steht Parkraum auf dem nahegelegenen Festplatz zur Verfügung, Parkraum für etwa 30 Fahrräder entstehen gegenwärtig am Rathaus. Das Ärztehaus selbst bietet Nutzfläche von knapp 800 Quadratmeter.

Anstoß durch Visionssuche

Der sozialinnovative Ansatz hat eine Vorlaufgeschichte. In der Gemeinde Tengen herrschte Mangel an Landärzten. Ursprünglich gab es drei Hausarztpraxen: zwei Einzelpraxen und eine Gemeinschaftspraxis. Die Einzelpraxen konnten nicht mehr nachbesetzt werden. 2015 wurden die Tengener Bürger*innen aufgerufen, eine Vision Tengens bis zum Jahr 2030 zu entwerfen. Viele folgten dieser Einladung. Die Überalterung der Ärzte und der sich abzeichnende Ärztemangel war ein Punkt, den die Bürger*innen einbrachten. Das gab den Anstoß, zu überlegen, welcher kommunale Beitrag hierfür geleistet werden könnte. Die Antworten liefen schnell auf den Bau eines Ärztehauses hinaus.

Anfangs wurde vor allem über die beiden klassischen Varianten nachgedacht: entweder ein Investor bekommt ein Grundstück gestellt, bebaut und vermietet es oder die Stadt baut selbst. Im Laufe der Diskussion kam dann ein »dritter Weg« hinzu: die Gründung einer Genossenschaft. Das wurde mit Partnern vor Ort weitergedacht, mit den beiden örtlichen Banken, der Sparkasse und der Volksbank, mit der katholischen und evangelischen Kirche, mit den Ärzten selbst, der Apotheke und einzelnen Bürger*innen.

Kleine Gemeinde – große Leistung

Für die Gemeinde Tengen ist das Ärztehaus als zentrale Anlaufstelle für gesundheitliche und soziale Versorgung ein großer Erfolg. Ergänzt durch dem mittlerweile ebenfalls fertiggestellten Bürgersaal wird das Karree mit dem namensgebenden Kastaniengarten als zentraler Platz von drei Seiten umschlossen – gemeinsam mit dem Rathaus. Eine meist raumhohe Verglasung in der Tagespflege bietet den Blick auf die Kastanien und großformatige Schiebetüren ermöglichen den Zutritt zum Außenspielbereich für die Kleinen. Der scheidende Bürgermeister- sieht die Genossenschaft als Leuchtturmprojekt. Mit ihr wird gezeigt, wie sich kommunalpolitische Herausforderungen in Ko-Produktion von Stadt, Bürgerschaft und zahlreichen weiteren gesellschaftlichen Akteuren lösen lassen: »ein Zukunftsmodell – nicht nur für den ländlichen Raum«.

Titelbild: Eröffnung des Ärztehauses in Tengen (Juli 2021) Foto: Stadtverwaltung Tengen

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