Der kleine Ort Lützerath ist der aktuelle Brennpunkt bzw. Kristallisationspunkt der Klimagerechtigkeits-Bewegung. Vor Lützerath verläuft die »1,5 Grad-Grenze«. Hier müssen die Braunkohle-Bagger gestoppt werden. Die weitere extrem klimaschädliche Verbrennung bzw. Verstromung der Braunkohle würde bedeuten, dass Deutschland seinen notwendigen Beitrag zum Pariser Klima-Abkommen nicht einhalten kann und die Erderhitzung weiter ansteigen wird.
Emilio Weinberg, Köln
Im Moment sind in Lützerath einige hundert Aktivist*innen, die hier einen Ort selbstorganisierten widerständigen Lebens schaffen – in mehreren gemieteten Wohnhäusern, in den Baumhäusern, Wohnwagen und Zelten. Täglich liefern solidarische Menschen aus der Region und auch manchmal von weit her, Material an. Es entstehen ständig neue Baumhäuser bzw. Strukturen, die eine Räumung sehr erschweren. Awareness-Bereiche und die Küche für alle (Küfa) sind aufgrund der langjährigen Erfahrungen in den Klima-Camps im Rheinischen Braunkohlerevier sehr gut organisiert, ebenso wie die täglichen Plena und auch die Art und Weise der Bezugsgruppenbildung zur Aktionsvorbereitung.
Die hier gelebte herrschaftskritische solidarische Organisationskultur führt dazu, dass alle sich hier meistens sehr wohlfühlen trotz der zugleich bedrückenden wie empörenden Nähe zu dem unfassbarem Zerstörungswerk durch RWE. Nicht nur die CO2-Emissionen sind destruktiv. Die bei der Braunkohle-Verbrennung entstehenden Feinstaub-, Stickoxid- und Quecksilber-Emissionen sind ein echter Gift-Cocktail. Diese verursachen unter anderem Krebserkrankungen und vorzeitige Todesfälle. Der verantwortliche RWE-Power-Vorstand wurde schon 2018 von 15 Kölner Rechtsanwält*innen wegen Tötungsdelikten angezeigt. Leider vergeblich. Aber: Die Vielen nicht bekannte Aarhus-Konvention bietet weitere rechtliche Möglichkeiten durch die Regelung des Zugangs zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (Art. 9). Dieses Übereinkommen ist der erste völkerrechtliche Vertrag, der jeder Person Rechte im Umweltschutz zuschreibt.
Erinnerungen an die »Freie Republik Wendland«
Die zivilgesellschaftliche Initiative »RWE-Tribunal« in der Tradition der »Russell-Tribunale« hatte im Juni ebenfalls in Lützerath das erste von vier Tribunalen veranstaltet. Zahlreiche Zeug*innen, Betroffene aus dem Revier, auch Sachverständige schilderten die traumatisierende Wirkung von Zwangsumsiedlungen, die gesundheitsschädlichen Folgen der Braunkohle-Verstromung und die Polizei-Gewalt gegenüber den Menschen, die sich dagegen zu Wehr setzen. Manche ältere Aktivist*innen aus der Anti-Atom-Bewegung fühlen sich in Lützerath erinnert an die »Freie Republik Wendland« im Jahr 1980.
Die seit Juli 2020 bestehende Dauer-Mahnwache, jetzt nur noch rund 150 Meter entfernt von den Tag und Nacht vordringenden Baggern, ist der Anlaufpunkt für Menschen, die zum ersten Mal nach Lützerath kommen. Auch in dem vom Abriss bedrohten Nachbardorf Keyenberg ist eine wunderbare Waldbesetzung entstanden: »Unser Aller Wald«. Auch hier sind Menschen eingeladen, mitzumachen. Im Sommer war hier auch eine Delegation der Zapatistas mehrere Tage zu Gast.
An den kommenden Sonntagen werden die von Michael Zobel und Eva Töller gestalteten und inzwischen bundesweit bekannten Wald- bzw. Dorfspaziergänge stattfinden. Am 17. Oktober waren über 700 Menschen dabei. Am 31. Oktober werden hoffentlich wieder tausende Menschen kommen, wie bei den Waldspaziergängen am Hambacher Wald vor dem Rodungsstopp im Jahr 2018. Auch »Fridays For Future« ruft dazu auf. Die Bürger-Initiativen rund um den Tagebau Garzweiler, unter anderem »Alle Dörfer bleiben« oder »Kirchen im Dorf lassen« laden von Woche zu Woche zu widerständigen Veranstaltungen und Aktionen ein.
Streiflichter der Vorgeschichte
Wie ist es zu dieser »Solidarischen Vielfalt« gekommen? Seit rund zwölf Jahren bin auch ich beteiligt am Bewegungsaufbau im Rheinischen Braunkohle-Revier. Genau vor elf Jahren im Oktober hatten wir die erste direkte Aktion des Zivilen Ungehorsams organisiert, eine Gleis-Blockade der RWE-Kohlebahn vor dem Kraftwerk Niederaußem. Wir waren eine »bunt gemischte« Gruppe von 30 bis 40 Aktivist*innen unter anderem aus der Ökologie- und Anti-Atom-Bewegung – inspiriert durch die ersten Klimacamps 2008 in Hamburg und 2010 in Bonn und auch durch das 2009 neu entstandene Netzwerk »Climate Justice Action«.
Die Gründung von »AusgeCO2hlt – der Plattform für den sofortigen Ausstieg aus der Braunkohle«, die Mitinitiierung der Waldbesetzung im Hambacher Forst und dann von »Ende Gelände« waren die nächsten Schritte. Es gelang zunehmend einen vielfältigen und solidarischen »Mosaik-Widerstand« zu entwickeln. Die schon seit Jahrzehnten im Rheinischen Revier vor Ort aktiven Bürgerinitiativen wie zum Beispiel die »Buirer für Buir« fühlten sich ermutigt durch unser Engagement und fingen an, mit uns punktuell zu kooperieren. Die großen NGOs wie Greenpeace und der BUND entschlossen sich ebenfalls, uns teilweise zu unterstützen. Hier in Lützerath zeigt sich nun, dass die langwierige Aufbau-Arbeit sinnvoll war.
Unräumbar-Festival
Nun, am 18. Oktober 2021, sitze ich Eckardt Heukamp gegenüber. Der Landwirt aus Lützerath geht als erster im Revier konsequent gegen die Zwangsenteignung seines Hofes und seiner Ländereien mit den fruchtbarsten Böden auf der juristischen Ebene vor (siehe Artikel auf Seite 1). Außerdem unterstützt er die Aktivist*innen praktisch, indem er sie auf seinen Wiesen und Häusern wohnen lässt. Zum 1. November soll im Interesse von RWE die sogenannte »Vorzeitige Besitzeinweisung« seines Eigentums erfolgen und damit könnte RWE seinen Hof abreißen, die vielen wunderbaren Bäume roden und die Aktivist*innen räumen. Das muss verhindert werden. Dies wird einerseits versucht auf der juristischen Ebene, andererseits durch die Vorbereitung auf die drohende Räumung. »Ende Gelände« und andere rufen ab dem 29. Oktober zum Unräumbar-Festival bzw. Blockade-Aktionen auf.
Weitere Infos:
luetzerathlebt.info, www.ende-gelaende.org, unserallerwald.noblogs.org
Titelbild: Wenn das 1,5 Grad-Ziel erreicht werden soll, darf Lützerath nicht abgebaggert werden. Foto: Sauerwein