Alternativer Nobelpreis – und was dann?

Vor einem Jahr wurde Cecosesola, einem Netzwerk von mehr als 50 gemeinschaftlichen Organisationen in Venezuela, der Alternative Nobelpreis (»Right Livelihood Award«) zuerkannt. Die Jury zeichnete Cecosesola »für die Schaffung eines gerechten und genossenschaftlichen Wirtschaftsmodells als solide Alternative zu profitorientierten Volkswirtschaften« aus. Wir möchten im Folgenden einige der Aktivitäten und Überlegungen, die dieser Preis in unserer Organisation bewirkt hat, mit euch teilen.

Genoss*innen von Cecosesola

Als wir die Nachricht über den Alternativen Nobelpreis erhielten, spürten wir eine große Freude über die internationale Anerkennung unseres Wirkens. Wir spürten auch die damit einhergehende Verantwortung und die Möglichkeit, mehr Menschen und Institutionen kennenzulernen, die sich in der Welt für ein besseres Schicksal der Menschheit einsetzen.

Wir sind sechs Wochen lang gereist, zunächst zur Preisverleihung in Stockholm und dann in Deutschland und der Schweiz. Das war eine intensive Reise, bei der wir Basisgruppen und Kooperativen besuchten, unterstützt von einer Gruppe deutscher Freund*innen, mit denen uns eine langjährige Beziehung verbindet.

Als wir mit dem Preis aus Europa zurückkehrten, haben wir zahlreiche Veranstaltungen innerhalb unseres Netzwerkes organisiert. Zwischen Januar und April 2023 wurden 21 Treffen mit 45 Organisationen des Netzwerks und 13 Schwesterorganisationen abgehalten, an denen etwa 1.600 Menschen teilgenommen haben.

Es ist wichtig zu betonen, dass Cecosesola keine »Institution« ist. Im Laufe der Zeit ist ein Netzwerk von Menschen und Gemeinschaftsprozessen entstanden, in welchem jede Initiative ihre eigene Dynamik hat. Allerdings teilen wir bestimmte Kriterien, die wir gemeinsam entwickelt haben. Deshalb war es für viele Menschen im Netzwerk wichtig, den Preis zu sehen und zu berühren, den wir gemeinsam für mehr als 55 Jahre kommunitäre Arbeit zugesprochen bekommen haben. Die Freude und die Emotionen sind unbeschreiblich. Man muss sich nur die mehr als 1.000 Fotos ansehen, auf denen wir mit diesem schönen Stück Metall zu sehen sind, das den Preis symbolisiert.

Bei diesen Treffen haben wir einige Eindrücke unserer Reise nach Europa geteilt. Und dann kam die Frage auf: Welche Aspekte oder außergewöhnlichen Dinge sehen andere Organisationen oder Menschen in dem, was wir tagtäglich tun? Und warum bemerken wir dies oft selbst nicht?

Wir leben nicht in »Von-Oben-nach-Unten«-Beziehungen.

Wir versuchen, uns gegenseitig in die Verantwortung zu nehmen. Es gibt keinen Chef, über den man sich beschweren oder dem man die Schuld in die Schuhe schieben könnte. Wir lernen, als Team zu arbeiten. Dadurch können wir als Menschen reifen, unsere persönliche Autonomie stärken und Qualitäten entdecken, von denen wir nicht einmal wussten, dass wir sie haben.

Wir rotieren die Aufgaben.

Die Rotation von Aufgaben ermöglicht uns, kontinuierlich andere Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erlernen und fördert den Austausch von Wissen unter uns. Das hilft uns, eine globale Sicht auf den Gesamtprozess der Organisation zu bekommen. Die Rotation erleichtert die Teamarbeit und macht uns nicht von einzelnen Personen abhängig. Wir lernen, jede Tätigkeit innerhalb der Organisation zu schätzen. Wenn wir zum Beispiel in der Küche arbeiten, lernen wir, wie schwierig es ist, pünktlich ein schmackhaftes Mittagessen für 150 Personen zuzubereiten. Und es wird nie langweilig.

Wir treffen Entscheidungen im Konsens.

Der Prozess der Entscheidungsfindung, zum Beispiel der Ausschluss einer Person aus der Organisation, ist keine mathematische Angelegenheit (wie viele stimmen zu, wie viele sind dagegen). Abstimmungen spalten meistens, schaffen Gewinner*innen und Verlierer*innen. Wir versuchen, uns die Gesamtsituation anzuschauen. In dem Beispiel von der Haltung der betreffenden Person zu lernen: Wie können wir ihr helfen, zu verstehen, was sie getan hat und sich zu verändern? Oder sind wir der Meinung, dass sie nicht weitermachen sollte? Wenn es keinen Konsens gibt, besprechen wir das in zukünftigen Sitzungen weiter.

Wir erlauben uns, Fehler zu machen.

Überall in Cecosesola fördern wir die spontane Entscheidungsfindung im Alltag und verringern schrittweise die Abhängigkeit von Gesprächsrunden und Plena. Dies fördert die verantwortliche Beteiligung aller. Gleichzeitig erhöht es aber auch die Möglichkeit von Fehlern, da es sich um einen Lernprozess handelt. Die Momente, in denen wir sehen, dass wir einen Fehler gemacht haben, sind aber auch sehr wichtig. Dann reflektieren wir gemeinsam, und wir können gemeinsam lernen und an ihnen wachsen.

Die schmutzige Wäsche wird gemeinsam gewaschen.

Beim Lernen aus Fehlern geht es nicht nur um jede*n von uns als Einzelperson. Beim Aufbau eines Netzwerkes geht es zentral darum, vertrauensvolle Beziehungen zu vertiefen und die Schwierigkeiten, mit denen wir in den einzelnen Bereichen konfrontiert sind, transparent zu machen. Wir haben die Gewohnheit überwunden, unsere Fehler zu verstecken, weil »schmutzige Wäsche zu Hause gewaschen wird«. Wir haben gelernt, dass wir ein sehr großes Haus haben. Und wenn eine Gruppe mit einer heiklen Situation konfrontiert ist, zum Beispiel mit einem Diebstahl, der von einem ihrer Mitglieder begangen wurde, können wir uns gegenseitig helfen, überprüfen, warum es passiert ist, was wir getan oder nicht getan haben und wie wir wachsam sein können, um so etwas zu vermeiden.

Wir erfinden uns ständig neu.

Über die permanent stattfindenden Gesprächsrunden schauen wir ständig und gemeinsam, was um uns herum geschieht. Die Beteiligung so vieler Menschen, die sich mit dem, was wir aufbauen, identifizieren, wirkt wie ein gigantisches kollektives Gehirn, das es uns ermöglicht, Lösungen zu finden, manchmal verrückte Lösungen, immer ausgehend von unseren eigenen Möglichkeiten. So haben wir es geschafft, so viele dramatische Situationen, die wir im Land erlebt haben, zu überstehen.

Wir teilen unser Wissen und ermutigen uns jeden Tag, dazuzulernen.

Auf einem Treffen mit den landwirtschaftlichen Genossenschaften im Bundesstaat Trujillo sagte ein junger Landwirt, das Schönste an der Arbeit in Cecosesola sei für ihn, dass wir uns gegenseitig helfen und voneinander lernen – selbst wenn wir 17 Rechnungen nochmals schreiben müssen. Alle lachten und blickten auf einen inzwischen recht alten Kollegen, der stolz sagte: »Es stimmt! Ich habe 17 Rechnungen falsch ausgestellt, aber am Ende habe ich es kapiert!«

Verpflichtungen übernehmen

Während der Treffen auf unserer Rundreise erahnten wir auch die enorme Verantwortung, die sich daraus ergeben würde, da unser Prozess nun viel mehr Menschen innerhalb und außerhalb Venezuelas bekannt werden würde.

Bisher wurden die internationalen Beziehungen von Cecosesola von dem Bereich »Kooperative Schule« koordiniert. Als Ergebnis der Gesprächsreise haben wir nun aber eine größere Gruppe von Genoss*innen gebildet, die wir »Nationaler und internationaler Austausch« genannt haben und die diese Aufgabe übernehmen wird.

Wir sind etwa 50 Personen aus verschiedenen Gruppen des Netzwerkes, die sich alle 21 Tage treffen. Einige Untergruppen zu spezifischen Themen treffen sich wöchentlich.

Wir besprechen, welche Art von Vorbereitung wir brauchen. Es ist eine Sache, zu erspüren und mitzuschwingen, was wir als Netzwerk Cecosesola sind und werden. Aber es ist etwas ganz anderes, diese Erfahrung auch in Worte fassen zu können. Sie zu systematisieren, sie zu organisieren, sie sogar mit den Augen derer wiederzuentdecken, die von anderswo kommen.

Die ersten Treffen waren der Vertiefung der oben genannten Elemente gewidmet, die unseren Prozess kennzeichnen. Es war schön, eine umfangreiche Liste zu erstellen, anhand welcher wir das, was wir tun, als einen permanenten Prozess der persönlichen Veränderung einordnen und wertschätzen können.

Zur Vorbereitung gehört es, eine ungefähre Vorstellung vom heutigen Venezuela zu haben, um die häufigsten Fragen der Menschen, die uns besuchen oder kontaktieren, beantworten zu können. Des weiteren ist uns wichtig, etwas über das Land zu wissen, aus dem die Menschen kommen, mit denen wir in Kontakt treten. Wo diese Länder liegen, ihre Geschichte, wovon sie leben, welche Sprache sie sprechen.

Die formale Bildung von uns Mitgliedern des Netzwerkes ist sehr unterschiedlich. Von Leuten, die nicht zur Schule gehen oder kaum die Grundschule abschließen konnten, bis hin zu anderen, die einen Universitätsabschluss haben. Die Treffen zu oben genannten Themen sind eine Herausforderung und eine wunderbare Gelegenheit für persönliches und kollektives Wachstum.

Bisher war die Arbeit der neuen Gruppe hart und lohnend. Wir haben dieses Jahr an sechs Treffen in Venezuela sowie an neun Treffen mit Menschen aus Ländern in Afrika, Europa und Lateinamerika teilgenommen. Wir bereiten aktuell Treffen mit Bolivien, Kolumbien, Chile und Österreich vor.

Und wofür soll das Preisgeld verwendet werden?

Der alternative Nobelpreis ist auch mit einer Geldsumme dotiert. Bisher konnten wir diese noch nicht in Empfang nehmen, weil wir noch rechtliche Probleme im Zusammenhang mit der Eröffnung internationaler Konten durch Genossenschaften in unserem Land zu bewältigen haben.

Aufgrund unseres Kriteriums der Selbstverwaltung haben wir beschlossen, das Geld nicht für Aktivitäten zu verwenden, die ihre eigenen Mittel erwirtschaften könnten. Wir werden es nutzen, um unseren Entwicklungsprozess mit anderen zu teilen (speziell fördern wir für die Teilnahme an internationalen Treffen die Kosten von Pässen und Sprachkursen in Englisch) und Projekte zur Nutzung umweltfreundlicher Energiequellen zu fördern.

Titelbild: Anstoßen auf den Alternativen Nobelpreis, der Cecosesola im letzten Jahr verliehen wurde. Foto: Cecosesola


Intercambio 2024

Auch 2024 findet wieder ein »Intercambio« statt, eine Delegationsreise von Cecosesola zu hiesigen Kollektivprojekten. Diesmal sollen vier statt zwei Delegierte eingeladen werden. Das ermöglicht, neue Projekte in die Reiseroute zu integrieren – eventuell auch dein Projekt? Für weitere Infos zu Cecosesola und zum Intercambio gibt es einen regelmäßigen Newsletter.

Falls ihr Interesse habt, schreibt an: intercambio-cecosesola@systemausfall.org

Für die Finanzierung der Reise freuen wir uns über Spenden an
Sinnflut e.V.
IBAN: DE76 1709 2404 0006 0289 77
BIC: GENODEF1FW1
Verwendungszweck: Intercambio Cecosesola (falls gewünscht: Name und Adresse für Spendenbescheinigung)

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